Das Geheimnis der Äbtissin
Gras auf die Holzgestelle.
Isabella und Judith standen auf dem Bergfried und verfolgten die Geschäftigkeit der Bauern. Eigentlich hatten sie hier oben etwas Abkühlung erhofft, doch selbst der Wind schien heute träge. Die Harzberge im Norden verschwanden allmählich im blassen Dunst, den die aufgehäuften Wolken wie einen Schleier unter sich herzogen.
»Das sieht nach einem herrlichen Gewitter aus«, meinte Isabella.
»Wir sollten von hier oben verschwinden.« Judith betrachtete besorgt die weiter wachsende Wolkenwand.
»Wir haben noch Zeit. Solange die Sonne scheint …«
»Beatrix ist vorhin zum Tor hinaus. Sie wollte mich nicht dabeihaben. Hoffentlich schafft sie es, rechtzeitig zurück zu sein.« Judith reckte sich über den breiten Mauerrand. »Wohin mag sie gegangen sein?«
»Hast du Sehnsucht nach ihr? Schadet ihr nicht, wenn sie mal nass wird. Das kühlt das Gemüt«, murrte Isabella.
»Schau, da kommt ein Reiter von der Klosterbaustelle, der will auch noch vor dem Unwetter zu Hause sein.« Judith deutete nach Osten, wo auf einem kleinen Bergrücken vor der Hainleite Holzgerüste ihre dünnen Finger in den Himmel reckten.
Seit der Abreise des Vaters mit dem Kaiser wurde an einem Hauskloster für Lare gebaut. Friedrich hatte es dem Grafen als Dank und Lohn für seine Kriegsdienste versprochen. Auf dem Hügel zu Füßen der Burg bewirtschafteten Benediktinermönche einen ehemaligen Herrenhof, die nun ein eigenes Kloster erhalten sollten. Zum Bauverwalter und Vermesser hatte der Kaiser Bischof Konrad bestimmt, der bereits in der Nähe von Aachen ein Kloster in Friedrichs Auftrag hatte errichten lassen.
Isabella kniff die Augen zusammen. »Dem falben Pferd nach zu urteilen ist das Konrad. Jetzt wird es spannend.«
»Was meinst du?«
»Denk nach!«
Wenn Isabella in diesem verschwörerischen Ton sprach, dann ging es um Beatrix.
»Du meinst, sie ist wegen ihm …?«
»Warten wir es ab.« Genüsslich stützte Isabella die Ellbogen auf die Mauerkrone und legte das Kinn in die Hände.
»Aber das Gewitter!« Wie zur Bekräftigung drang jetzt ein erstes verhaltenes Grollen aus dem Wolkengebirge, dessen vorderste Ausläufer über der Westmauer angelangt waren.
»Du wirst doch das Drama hier nicht verpassen wollen?«
Der Wachsoldat, der hinter ihnen die Gegend beobachtete, warf einen nervösen Blick herüber. »Hohe Frauen, Ihr solltet den Turm verlassen. Es wird bald deutlich näher blitzen.«
»Wir gehen gleich. Nur noch einen Moment.« Isabella packte sie am Arm. »Sieh! Dort, der helle Fleck auf dem Hohlweg zur Baustelle!«
Judith blickte an ihrem ausgestreckten Arm entlang. »Wo? Nein, warte. Jetzt sehe ich.« Eine kleine Gestalt mit einem leuchtenden Schleier auf dem Kopf bewegte sich eilig in Richtung Osten. Ein paar Schritte hinter ihr lief eine zweite Person in dunklerer Kleidung.
»Das ist ihre Dienerin. Diese Frau hat kein leichtes Amt«, spottete Isabella.
»Wo will sie denn nur hin? Sie sollte umkehren.«
»Still!« Isabella wandte sich nach dem Soldaten um. Doch der hatte nur Augen für die Wolken, die sich gerade über sie hinwegschoben. Ein weit verzweigter Blitz hinter dem Reinhardtsberg ließ ihn zusammenfahren. »Wir sind gleich weg«, kam sie seiner Ermahnung zuvor.
Judith stieß sie mit dem Ellbogen an. »Jetzt hat der Reiter sie erreicht, schau nur!«
»Na klar. Das war von Anfang an ihr Ziel. Sie wollte Konrad treffen. Vielleicht sogar auf der Baustelle. Doch das Unwetter ist ihnen zuvorgekommen. So ein Pech!«
Dem Blitz folgten ein heftiges Krachen und ein Windstoß, der auf der frisch geharkten Wiese unten einen Wirbel von trockenen Grasresten aufsteigen ließ. Die letzten Bauern rannten auf das Dorf zu, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen. Unten auf dem Hof wurden Stimmen laut. Frauen riefen nach ihren Kindern, Hunde begannen zu kläffen. Eine kräftige Böe fegte oben auf dem Turm die Atemluft weg.
»Halleluja!«, jubelte Isabella, als sie wieder Luft bekam. »Ich liebe den Wind!«
Der Soldat kam jetzt auf sie zu. Er sagte etwas, was sie nicht verstanden, denn noch immer riss der Wind an Haaren und Kleidern. Dicht neben der Westmauer schlug ein Blitz in den Wald ein, eine Frau auf dem Hof schrie, Isabella zerrte an Judiths Ärmel, und der Soldat fuchtelte mit den Armen. Isabella deutete aufgeregt in Richtung Hohlweg. Die Dienerin stand mit dem reiterlosen Falben neben einer Weißdornhecke. Sie hatte Mühe, das vor den Blitzen scheuende Pferd zu halten.
Weitere Kostenlose Bücher