Das Geheimnis der Äbtissin
ungelegen!«, rief er einem Jungen entgegen, der beim Hereinreiten im Sattel stand und mit Äpfeln jonglierte. »Ihr stört meinen Mittagsschlaf!« Er jaulte auf, als ihm einer der Äpfel auf seinen großen Kopf fiel. »Stümper!«, schrie er, doch sein weiteres Gezeter ging im Johlen der Leute unter.
Jetzt trabte das zweite Pferd durch das Tor. Auf seinem Rücken stand ein halbwüchsiges Mädchen kopfüber im Sattel und streckte die dünnen Beine in die Luft. Das Gesinde klatschte begeistert. Aus der dunklen Einfahrt klang die fröhliche Melodie einer Drehleier, gemischt mit hellem Gebimmel. Das Publikum ließ die Hände sinken und lauschte gespannt. Zwei Pferde mit farbigen Bändern in den Mähnen und Glöckchen am Geschirr zogen den Wagen auf den Hof. Ein bartloser Mann mit Glatze und sonnenverbrannter Haut saß auf dem Kutschbock und drehte an seiner Leier. Hinten angebunden folgte eine weiße Ziege an einer langen Leine, die zur Begrüßung ein lautes Meckern hören ließ.
Die beiden jungen Gaukler sprangen mit einem Salto von ihren Pferden und verbeugten sich tief.
»Seht nur«, rief Beringar erstaunt, »diese Kleider!«
Der Junge sowie auch der ältere Mann trugen Wams und Beinkleider in roten und weißen Streifen, die in Gürtelhöhe versetzt waren. Das Wams endete unten in Zipfeln, an denen Glöckchen bimmelten. Das Mädchen drehte sich auf den Zehenspitzen und wurde immer schneller, die Farben ihrer Tunika verschwammen vor den Augen der Zuschauer zu einem einzigen hellen Fleck. Der Stoff bauschte sich dabei auf und bekam die Form eines kleinen Weinfasses. Der Junge band die Ziege vom Wagen und ließ sie durch einen Reifen springen. Währenddessen stellte sich das Mädchen vor ein großes rundes Backbrett, das seitlich am Planwagen festgebunden war. Der Glatzkopf zog etliche Messer aus einem Lederbeutel und warf sie in schneller Folge nach dem Brett. Die Zuschauer hielten den Atem an. Die Klingen blieben vibrierend neben Kopf und Schulter des Mädchens stecken. Begeistert klatschten die Leute, als es sich strahlend und unversehrt verbeugte.
Der Graf begrüßte die Spielleute und bat um eine weitere Vorstellung am Abend. Im Hintergrund sah Judith Beatrix durch das Torhaus kommen. Die Königin zögerte, als sie die vielen Menschen bemerkte, und warf einen seltsam verstörten Blick über den Hof. Dann wickelte sie sich fester in ihren Umhang und lief zum Palas. Kurz vor der Treppe sah sie auf und erblickte Judith. Sie senkte hastig den Kopf und wechselte abrupt die Richtung. Geduckt wie ein geprügelter Hund stahl sie sich durch die Tür des Nebeneingangs. Die Spielleute schienen sie nicht zu interessieren. Verwundert sah Judith ihr nach. Ein unangenehmes Brennen schlich sich in ihren Bauch, als hätte sie zu viel Hippokrat getrunken. Wo blieb nur Isabella? Jetzt sah sie auch den Bischof. Er reckte hinter den Schaulustigen am Bergfried den Hals und amüsierte sich mit ihnen. Wie lange stand er schon dort?
Erregtes Gemurmel lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gaukler. Auf dem Planwagen teilte sich der bunte Stoff, und eine Frau trat heraus, deren Aussehen den Männern auf dem Hof einen gemeinschaftlichen Seufzer entlockte. Ihr schwarzes Haar fiel ungebändigt über Schultern und Rücken, ihre rehbraune Haut erinnerte Judith an Silas. Große schwarze Augen warfen herausfordernde Blicke in die Menge. Unter ihrem glänzenden Kleid aus gelbem Brokat wölbte sich ein enormer Bauch. Sie musste kurz vor der Niederkunft stehen. Der Glatzkopf half ihr vom Wagen. Ihre Bewegungen waren trotz ihres Leibesumfangs noch immer geschmeidig wie die einer Katze.
»Die schöne Hanima wird euch die Zukunft sagen. Vertraut ihr, sie erkennt euer Schicksal so klar wie frisches Wasser.« Der Mann zog einen kleinen Teppich hervor und breitete ihn aus. Hanima nahm darauf Platz.
»Diese Frau sieht aus wie ein wandelndes Fass. Wie kann sie nur auf einem rumpelnden Wagen leben?«, flüsterte Gerlind.
Inzwischen scharten sich die Leute bereits um den Teppich und versperrten die Sicht. Der Glatzkopf ordnete sie in eine Reihe und streckte die Hand nach ihren Kupfermünzen aus.
»Sie nehmen einen ganzen Heller!«, schimpfte die Frau des Mundschenks, die sich aus der Menge herauswand. Ärgerlich strich sie über ihren Bauch, der im Vergleich zu dem des Spielweibs klein und mickrig aussah. Der Mundschenk redete ihr zu und kramte in seinem Beutel. Er drückte ihr eine Münze in die Hand und schob sie nach vorn. »Lass dir sagen, was
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