Das Geheimnis der Äbtissin
der Flammen auf sein Gesicht fiel, erkannte sie echte Sorge, beinahe Panik.
Die leichte Steigung des Hügels ließ nach, offenbar hatten sie seine Kuppe erreicht. Die Büsche wichen zurück, eine Lichtung öffnete sich im Zwielicht. Die Fackel beleuchtete nur einen kleinen Teil, es war unmöglich, ihre Maße abzuschätzen. Von den Flanken her hörten sie die Soldaten, die sich ebenfalls durch das Astwerk kämpften. Hier und da flackerte Licht zwischen den Blättern. Sie umkreisten die Wiese, indem sie sich dicht an den Randbüschen hielten. Ein Geräusch ließ sie innehalten. Es klang wie ein schwaches Winseln.
»Was ist das?«, flüsterte Judith und packte Ludwigs Hand. Die feinen Härchen auf ihrem Arm richteten sich auf.
»Ich weiß nicht.«
Wieder hörten sie den hohen, jammervollen Ton. Er kam von der Mitte der Lichtung. Sie fasste seine Hand fester.
Ludwig bereute es, kein Schwert mitgenommen zu haben. Aber ließen sich Geister mit eisernen Waffen bekämpfen? »Komm weiter.«
Gegenüber rahmten die dichten Zweige einer Mehlbeere ein dunkles Viereck ein.
»Es gibt einen Weg hinaus«, sagte sie leise, während sie versuchte irgendetwas in dem finsteren Ausgang zu erkennen.
»Diese Lichtung ist ein ideales Versteck«, flüsterte er. »Der Weg kommt von hinten her auf den Hügel. Von der Burg aus ist er nicht zu sehen.« Er leuchtete den Boden ab und stieß auf Hufabdrücke. »Sie haben sogar die Pferde mit hinaufgenommen.« Er folgte den Spuren mit gesenkter Fackel. Sie führten direkt auf das Winseln zu.
Ihre Füße wurden schwerer. Judith griff nach dem silbernen Kreuz an ihrem Hals. »Lass uns auf die Soldaten warten.«
»Die sind ohnehin gleich da. Hab keine Angst.« Ludwigs Stimme vibrierte, doch er ging weiter. In dem zitternden Rund des Fackelscheins tauchten plötzlich hüfthohe, grob behauene Steine auf, die in den Boden eingelassen waren. Das Winseln verstärkte sich und schien aus den Steinen zu kommen.
»Was sind das für …?«, fragte sie, doch im selben Moment blieben ihr die Worte in der Kehle stecken. Am Rand des Lichtkreises lag ein Fuß im Gras. Den hellbraunen Lederschuh erkannte sie sofort. Sie stieß einen rauhen Schrei aus. Die Fackel glitt aus seinen Händen und erlosch. Es wurde dunkel.
»Was machst du denn?« Sie ließ sich auf den Boden fallen und kroch auf allen vieren in Richtung des Fußes. Er war vor ihr da. Sie fasste an ihm vorbei und tastete nach dem Körper, den er bereits in seinen Armen wiegte. Sie fühlte Stoff, darunter weiches Fleisch. Eine Hand. Kühl und schlaff. Der Ring daran war ein Geschenk des Kaisers zu ihrem letzten Geburtstag gewesen. Sie tastete weiter. Wo saß das Herz? Sie musste fühlen, ob … Ludwigs Arme waren im Weg. Sie klammerten, hielten fest. Warum ließ er nicht los?
»Lass mich!« Seine Stimme kippte. Er schaukelte stur Isabellas Leib.
Etwas Warmes, Feuchtes berührte ihre Hand. Sie zuckte zurück, griff vorsichtig ins Dunkle. Weiches Fell, ein Winseln.
»Sida ist hier. Sie hat gewinselt.« Als ob diese Erklärung noch wichtig wäre.
Ihr Bruder schluchzte. Irgendetwas war verkehrt. Musste sie nicht die Trauernde sein, die Fassungslose? Er hatte ihr doch nur helfen wollen. Sie griff nach seiner Hand. Die Verständnislosigkeit verhinderte Verzweiflung. »Ludwig?«
»Sie war so stur, sie wollte nicht auf mich hören. Ich hatte sie … gewarnt. Aber sie …« Die Worte versiegten in seiner Kehle.
Langsam formte sich ein Gedanke hinter ihrer Stirn. Was hatte sich im vergangenen Jahr zwischen den beiden entwickelt? Ihr fiel ein, dass Ludwig am ersten Abend zu ihr gesagt hatte, er habe auch eine Neuigkeit für sie. War es
das
gewesen?
Die Stimmen der Soldaten kamen näher. Sida sprang auf und begann zu bellen.
»Was war zwischen euch?«, fragte Judith.
»Alles.« Das Wort brach aus ihm heraus. »Sie war alles für mich! Wir wollten …«
Sida bellte lauter, Fackellicht flackerte auf. Zwei Männer stapften auf die Lichtung. »Da vorn. Da ist der Hund!«
»Wir sind hier!«, rief Judith. Sie stand auf und zog Sida zurück, die glaubte ihre Herrin verteidigen zu müssen. »Zu spät, Sida! Es ist zu spät.«
Plötzlich waren überall Bewaffnete, aufgeregte Stimmen und blakende Fackeln. Vom Weg am Ende der Wiese hörten sie Hufschläge. Graf Ludwig trieb sein Pferd auf das Licht zu.
»Was ist passiert?«, fragte er, während er aus dem Sattel sprang.
»Wir haben sie gefunden«, sagte einer der Soldaten. »Sie ist tot.«
[home]
Am
Weitere Kostenlose Bücher