Das Geheimnis der Äbtissin
musterte sie neugierig und wandte sich dann ab. Die Straße in Richtung Mühlhusen war leer bis auf ein paar Krähen, die sich um einen dunklen Klumpen am Wegesrand stritten. Zu guter Letzt drängte sie sich am Soldaten vorbei, um den Weg zu beobachten, der nach Süden zur Runesburg führte. Pater Martinus behauptete, auf diesem flachen Hügel hätten heidnische Götter gewohnt, bevor sie vor langer Zeit von den christlichen Priestern vertrieben wurden. Von einer Burg war dort nichts mehr zu sehen. Der Platz war mit dichtem Gestrüpp bewachsen und wurde von den Leuten ängstlich gemieden. Nicht einmal der Gänsehirt trieb seine Tiere dorthin. Der schmale Pfad führte zunächst direkt auf den Hügel zu und lief dann im Bogen um ihn herum.
Sie schlug die Hand vor den Mund, als sie auf diesem Pfad tatsächlich das helle Pferd von Beatrix erblickte, dicht gefolgt von dem Schlachtross des Bischofs, der wie ein unvermeidlicher Schatten hinter ihr ritt. Erneut beugte sie sich über die warmen Steine der Mauerkrone. Die beiden Pferde trabten gemächlich auf den Hügel zu und folgten dem einzigen Weg, der um ihn herum führte. Zwischen Hagebutten- und Weißdornbüschen verlor sie sie aus den Augen. Während sie darauf wartete, dass sie auf der anderen Seite des Hügels wieder hervorkamen, sah sie plötzlich ein drittes Pferd. Diese wilde, ungestüme Gangart! Ihr stockte der Atem. Das war Gerti. Während Beatrix und Konrad noch immer verschwunden waren, sprang Isabella vor der Runesburg aus dem Sattel und band die Stute an einem der Büsche fest. Dann lief sie in Richtung Hügelkuppe und verschmolz mit dem frischen Grün der Hagebuttensträucher.
»Gütiger Jesus, was hat sie vor?« Judith fühlte ihr Herz plötzlich in der Kehle schlagen. Panik legte sich auf ihre Brust und erschwerte ihr das Atmen. Es war das gleiche Gefühl wie damals im Birkenwäldchen, als sie statt einer Murmeltierfamilie Konrad und Beatrix erblickt hatte. Was würde passieren, wenn der Bischof Isabella entdeckte? Wollte sie ihn zur Rede stellen? Das wäre ihr zuzutrauen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte leise. Die Schritte des Soldaten dröhnten über die Eichenbohlen. Ob er etwas bemerkt hatte? Unauffällig sah sie sich um. Der Mann stand auf der anderen Seite des Turms. Offenbar interessierte er sich mehr für den hellen Planwagen. Mit wenig Hoffnung starrte sie auf den grünen Hügel. Mussten die beiden Pferde nicht jeden Moment hinter den Büschen auftauchen und den Rückweg einschlagen? Doch sie sah nur Gerti, die unruhig mit dem Vorderhuf im Gras scharrte.
Was sollte sie tun? Hinterherreiten? Das würde Isabella gar nicht gefallen. Einfach abwarten? Wenn sie wenigstens Ludwig um Rat fragen könnte. Vielleicht war es doch an der Zeit, ihn einzuweihen. Wütend über ihre Unentschlossenheit schlug sie mit der Faust auf die Mauer und schürfte sich die Haut auf. Mit Genugtuung fühlte sie den brennenden Schmerz.
Der Wachsoldat kam herübergeschlendert und wies auf die Zufahrt zur Burg. »Der Planwagen nimmt den Weg zu uns.«
Sie blickte in die Richtung seines ausgestreckten Arms. Am Ende des Wegs erkannte sie die kräftigen kleinen Pferde, die jetzt, da sie den mühsamen Anstieg geschafft hatten, in leichten Trab fielen. Der Wagen war mit einer Stoffbahn überspannt, deren Farbkleckse sich bei näherem Hinsehen als Flicken enttarnten. Auch die beiden Reiter waren sehr bunt gekleidet.
»Spielleute!« Gedankenverloren ging sie zum Abstieg. Sie nickte dem Mann zu, der ihr neidvoll nachsah, als sie in die dunkle Tiefe des Treppenschachts abtauchte. Liebend gern wäre er ihr gefolgt, doch sein Dienst endete erst mit der einbrechenden Dämmerung. Unten schickte sie einen Küchenjungen mit der Anweisung zum Tor, die Gaukler einzulassen. Noch bevor der farbenfrohe Wagen über die Zugbrücke rumpelte, hatte sich das Gesinde vor dem Palas versammelt. Beringar zappelte zwischen Gerlind und Judith auf der obersten Stufe der Treppe. Ludwig stand in der Tür der Schmiede neben dem hünenhaften Waffenschmied und dessen Frau. Als das erste der kleinen Pferde durch das Tor trabte, trat selbst der Graf mit gespannter Miene aus der Tür. Ein Diener trug Schemel hinaus, damit sie sich setzen konnten. Es war lange her, dass sie Spielleute auf der Burg gesehen hatten.
Der Narr Karol stolperte aus dem Garten. Über sein mürrisches Gesicht zogen sich die Abdrücke einer Holzbank. Mit fuchtelnden Armen lief er über den Hof. »Brüder, ihr kommt
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