Das Geheimnis der Äbtissin
vorliebnehmen.« Seufzend prüfte sie, ob der Kräuterkorb fest am Sattel hing, und saß auf. »Sigena wird noch einen Tag warten müssen«, murmelte sie verdrossen und lenkte ihr Pferd auf Gertis Hufspur, die mit weitverstreuten Erdbatzen und herausgerissenen Grasbüscheln nach Lare wies.
Auf halber Wegstrecke kam ihnen Isabella bereits entgegen. Gertis Fell war schweißbedeckt, die Stute tanzte, als hätte sie Glut unter den Hufen, aber sie reagierte wieder auf die Zügel.
»Ist alles in Ordnung bei euch?«, rief Judith.
Isabella nickte. Ihre Locken standen wild in alle Richtungen, ihre Wangen leuchteten wie reife Äpfel. »Ab und zu braucht sie mal ein bisschen Aufregung. Sie hat einen Kratzer an der Kruppe, das ist alles.« Sie klopfte Gerti, die erfreut ihr Fohlen beschnupperte, den Hals. »Tut mir leid. Willst du noch zum Straußberg reiten?«
Judith sah nach der Sonne. Sie stand schon ziemlich hoch. Wenn sie jetzt losritt, blieb ihr nicht viel Zeit, mit ihrer Tante zu fachsimpeln. Sie schüttelte den Kopf. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
Sie brachten die Pferde nach Hause. Judith drückte die Zügel einem Knecht in die Hand, nachdem sie den Kräuterkorb vom Sattel genommen hatte.
»Ich muss Gerti trockenreiben!«, rief Isabella, während sie mit einem Arm das auskeilende Fohlen umschlang, das unbedingt neben seiner Mutter in den Stall wollte. Durch das nur halb geöffnete Tor passten jedoch nicht zwei Pferde gleichzeitig.
»Willst du wohl warten, du kleiner Teufelsbraten!«, hörte Judith die Freundin fluchen.
»Das wäre ein viel besserer Name als Sternchen!«, sagte sie lachend und lief, ihren Korb schwenkend, zum inneren Burghof. Als sie über die Zugbrücke kam, wurde sie von lauten Stimmen sich offensichtlich streitender Männer abgelenkt. Sie erkannte den energischen Ton ihres Vaters und die nasale Stimme des Bischofs. Ihr Streit musste einen triftigen Grund haben, waren die beiden doch sonst ein Herz und eine Seele.
»… dann ist Eure Kirche eben falsch ausgerichtet worden!«, fauchte Konrad gerade. Sie trat unter dem Torhaus hervor und sah die Männer. Sie standen sich gegenüber wie zwei Ziegenböcke mit gesenkten Hörnern. Ihr Vater fuchtelte mit einer Pergamentrolle in der Luft herum.
»Diese Kapelle ließ mein Großvater bauen, zweifelt Ihr etwa an seinen Fähigkeiten?«
»Sie weist jedenfalls nicht auf den Punkt, an dem am Morgen des Peter und Paul die Sonne über den Horizont tritt. Meine Messungen bestätigen das!« Der Bischof hielt ihm ein Gerät unter die Nase, das wie eine Armbrust für Kinder aussah.
»Aber sie wurde vom Mainzer Erzbischof geweiht …« An Graf Ludwigs Schläfe pochte deutlich erkennbar eine Ader.
»… der offensichtlich nicht nachgemessen hat!« Konrad klopfte mit dem Gerät in seiner Hand auf das Pergament.
Judith seufzte und ging auf die beiden Männer zu. Sie ignorierte Konrad, als sie fragte: »Was ist los, Vater?«
Graf Ludwig schnaufte verächtlich. »Der Herr Bischof behauptet, unsere Kirche stehe schief!«
»Ich behaupte das nicht nur, ich kann es beweisen!«
»Warum ist das so wichtig? Es wird doch sowieso eine neue gebaut.«
Konrad verdrehte hochnäsig die Augen und rollte den Bauplan auf, um sich in die Zeichnung zu vertiefen.
Ihr Vater deutete auf den Fuß der Mauer. »Die neue Kirche muss fast genau auf den Fundamenten der alten errichtet werden, denn sie soll in die Reihe der anderen Gebäude eingefügt werden. Und sie soll das Patrozinium von Peter und Paul behalten.«
Judith nickte. Jedes Jahr am 29. Juni wurde die Kapelle mit Blumen festlich geschmückt, um den Tag der heiligen Schutzpatrone zu feiern.
Ihr Vater seufzte und deutete auf Konrad. »Er hat die Baupläne mit den bestehenden Mauern abgeglichen. Er meint, dass der Grundriss nicht genau nach dem Sonnenaufgang an Peter und Paul ausgerichtet ist. Wenn das stimmt …«
»Es ist so wahr, wie der Teufel zwei Hörner hat!«, presste der Bischof zwischen den Zähnen hervor. »Ich habe schon wesentlich größere Kirchen ausgerichtet als Eure Kapelle hier!«
»Schon gut. Gerade vor einem Jahr erst habt Ihr die Fundamente der Basilika abgesteckt. Ich weiß Eure Kenntnisse zu schätzen, Bischof.« Er kratzte sich am Kopf. »Und trotzdem …«
Judith überlegte. »Warum wartet Ihr nicht bis Ende Juni? Am Tag des Peter und Paul sehen wir, wo die Sonne aufgeht.«
»Stümperei!«, schimpfte der Bischof. »Wir wollen jetzt damit beginnen, die Gräben auszuheben. Die alten
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