Das Geheimnis der Äbtissin
wollte er sie in Scheiben schneiden, und strich sie schließlich mit geschickten Bewegungen glatt. Dann erhob er sich und griff nach dem Stein, der jetzt in seiner Höhe hing. Er zog ihn über den Brei und lenkte ihn sacht in die richtige Position. Mit einer Hand hielt er den Block, mit der anderen gab er das Zeichen zum Ablassen. Der Kranmeister rief ein Kommando, das Rad stockte und drehte sich ein kleines Stück in die entgegengesetzte Richtung. Mit einem satten Geräusch sackte der schwere Quader in die dünne Schicht Mörtelbrei. Der Steinsetzer prüfte mit einer Senkwaage gewissenhaft die Ausrichtung und zog die Teufelskralle ab, die den Stein am Seil gehalten hatte, bevor er sie mit einem leichten Stoß wieder nach unten schickte.
Am Ende des Gerüstes führten die Fundamentgräben im rechten Winkel von der Mauer des Seitenschiffs weg. Sie folgte Thomas, der um den Vorsprung herum lief. An der Seite stießen sie auf eine Brücke aus dicken Holzbohlen.
»Hier wird das südliche Portal sein, über dem mein Tympanon wachen wird«, sagte er stolz.
Sie überquerten den Graben und betraten das künftige Querschiff. Rechts ragte bereits die halbrunde Wand der Apsis aus der Erde. Mehrere Öffnungen deuteten sich als Aussparungen in den aufstrebenden Steinreihen an. Judith fragte sich, ob am Morgen des heiligen Gangolf tatsächlich die Strahlen der aufgehenden Sonne in das mittlere Fenster einfallen würden. Im Gegensatz zu Lare gab es hier keine störenden Gebäude, die ihre Schatten auf das Mauerloch warfen. Was, wenn der Bischof sich vermessen hatte? Würden die Wände einstürzen, wenn der Schutzheilige seine Mission nicht erfüllen konnte? Sie keuchte halblaut, als ihr einfiel, dass der heilige Gangolf der Schutzpatron der betrogenen Ehemänner war. Was er wohl davon hielt, dass ausgerechnet der Liebhaber der Königin eine Kirche unter seinem Patronat erbaute?
Thomas sah ihren skeptischen Blick. »Der Altarraum«, erklärte er überflüssigerweise.
Sie nickte und wandte sich von der Vierung aus nach links. Lang ausgehobene Fundamentgräben und die fast fertige Südwand über den Pfeilern ließen die Ausmaße des Mittelschiffs gut erkennen. Ein Ochsenfuhrwerk voll Kalksteinplatten rollte vom nördlichen Seitenschiff herein und hielt neben einem Graben. Die beiden Zugtiere ließen erschöpft die Köpfe hängen. Ein Arbeiter führte ein Maultier mit einem Tragegestell hinterher, an dem zwei Holzfässer mit Mörtel befestigt waren.
»Sie errichten die Fundamente für die Pfeiler der Nordwand. Diese Mauern werden die Hauptlast der Dachkonstruktion tragen.« Thomas beschrieb mit seiner Messlatte einen unbestimmten Bogen in der Luft, wo sich irgendwann einmal das Dach über den Gläubigen wölben würde.
»Wie in Würzburg«, murmelte sie und sah sich plötzlich neben der kichernden Beatrix mitten im lichtdurchfluteten St. Kiliansdom stehen. Sie legte den Kopf in den Nacken. »Dort oben werden sich die Bögen über den aufstrebenden Pfeilern treffen.«
Thomas nickte begeistert. »Ihr kennt den Würzburger Dom?«
»Ja, ich war dort mit der Königin.«
»Diese Kirche hier wird ihm tatsächlich ähnlich sein. Allerdings ist sie wesentlich kleiner.«
Sie musste ihm recht geben. Obwohl ihr die Basilika sehr groß erschien, war der St. Kiliansdom noch um einiges mächtiger gewesen. »Und das Wunder des Herrn? Werden wir das hier auch hören?«
Thomas sah sie fragend an. »Was meint Ihr?«
»In Würzburg kamen die Töne von den Wänden, aus den Pfeilern, von überall her. Die Königin sagte, der Herr sorgt dafür, dass alle Menschen sein Wort hören können.«
»Ich verstehe.« Thomas grinste ohne Ehrfurcht. »Keine Sorge, das wird funktionieren. Dafür sind diese Bögen zuständig, von denen Ihr spracht.«
Judith lief hinüber zu einem der Gräben. Vorsichtig reckte sie den Hals und schaute hinunter. Der Boden war felsig, die Wände bestanden aus rotem, tonähnlichem Material. Sie sah zwei parallel verlaufende Mauern aus Werksteinen, die gerade und rechtwinklig behauen waren, allerdings nicht so sorgfältig geglättet wie die an der Oberfläche verwendeten Quader. Zwei Arbeiter standen in dem gerade fußbreiten Raum zwischen Steinen und Grubenwand und packten dünne unbearbeitete Kalksteinplatten im Wechsel mit schmatzendem Mörtel in den Zwischenraum der Doppelmauern. Der Ochsenführer ließ in einem Weidenkorb Nachschub an Steinen herab.
Gerade als sie sich abwenden wollte, kam ein Arbeiter mit einem
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