Das Geheimnis der Äbtissin
Eingang. Der ihr schon bekannte Löwe verschlang links die Blattranke, mittendrin blickte ein grimmig aussehender Wolf geradeaus auf den Betrachter. Von rechts wanden sich die Blätter in fast identischer Art über das Bild, doch wuchsen sie diesmal aus dem Schlund eines Adlers.
»Wer hat das entworfen?«, fragte sie.
»Der ehrwürdige Bischof Konrad.« Thomas griff zum Meißel und setzte seine Arbeit fort.
Auf dem Weg zurück zu ihrem Pferd kam sie an einem stabilen Holzregal vorbei, auf dem, aufgereiht wie Haferkuchen in der Vorratskammer, lauter Steine mit tellerförmig herausgearbeiteten Motiven lagen. Es gab Spiralen, Sterne, unterschiedliche Blumen und Scheiben, aus denen Augen mit totem Blick herausstarrten.
Die Stute schnaubte und tänzelte nervös, die vielen fremden Geräusche und Menschen behagten ihr nicht. Sie gab die Zügel einem Bauernjungen, der ihr über den Weg lief. »Wo stehen hier die Pferde?«
»Hinter der Baumeisterhütte, Herrin. Dort gibt es auch eine Tränke.« Er zeigte in Richtung Osten, wo am Ende des Hügels eine breite Holzhütte sich unter ein dickes Schilfdach duckte.
»Bring sie dorthin!« Sie gab der Stute einen leichten Klaps und wandte sich zur Baustelle. Zum ersten Mal erfasste sie die gewaltige Größe der Klosterkirche aus der Nähe. Dieses Bauwerk hätte auf dem Burghof von Lare niemals Platz gefunden. Gleich vorn im westlichen Teil wuchsen Wände aus den Gräben, halbrund gemauert wie zu einer Apsis. Die sorgfältig behauenen Steine waren zweischalig verbaut, und zwischen den beiden Mauern hatten die Bauleute Muschelkalkplatten als Füllmaterial aufgeschichtet. An ihrem Ende wuchteten die Fundamente sich plötzlich zu doppelter Stärke heraus. Insgesamt ergab sich eine Mauerstärke, die mindestens ihrer eigenen Leibeshöhe entsprach. Solch mächtige Grundsteine …
Eine fröhliche Stimme hinter ihr unterbrach ihre Gedanken. »Das wird einer der Türme des Westwerks werden.« Der junge Steinmetz Thomas, der eben noch an dem Tympanon gearbeitet hatte, deutete auf die Fundamente vor ihr. Er trug eine Messlatte in der einen Hand, in der anderen ein Pergament. »Soll ich Euch die Baustelle zeigen?«, fragte er.
Sie zögerte und sah sich um. Ludwig war nirgends zu sehen. Dann nickte sie. Wer wusste schon, ob sie bald wieder Gelegenheit haben würde, hierherzukommen.
»Diese beiden mächtigen Türme werden weithin sichtbar sein, und ihre Glocken werden die Bauern in allen umliegenden Dörfern hören. Seht dort drüben, das andere Fundament ist bereits mit Mauern besetzt.« Mit der Messlatte deutete er auf die Stelle, wo der zukünftige Schwesterturm mannshoch aus den Gräben herausragte und von Zimmerleuten eingerüstet wurde. Handwerker setzten eine Rampe aus starken Bohlen, auf der die nächsten Steinblöcke heraufgezogen werden konnten. Ein Steinsetzer, den sie an der Mörtelkelle an seinem Gürtel erkannte, beaufsichtigte mehrere Gehilfen, die in einem Holzfass Mörtel aus gemahlenem Kalk und Wasser anrührten. Auf dem gestampften Boden zwischen den beiden Türmen zeichneten sich noch Spuren der kleinen alten Kapelle ab, deren Überreste im vergangenen Herbst abgerissen worden waren.
Thomas ging ein paar Schritte in Richtung Osten. »Hier entstehen die Mauern des Mittelschiffs. Sie sind, wie Ihr seht, am weitesten fortgeschritten.«
Tatsächlich rankte sich an der inneren Wand bereits ein Gerüst nach oben. Sie stützte sich auf vier mächtige quadratische Pfeiler, die durch großzügig geschwungene Bögen miteinander verbunden waren. Hölzerne Konstruktionen hielten die massigen Steine über den Durchgängen in ihrer luftigen Höhe fest. »Die werden herausgenommen, sobald der Mörtel trocken ist. Das ist immer ein spannender Augenblick.« Thomas deutete auf die halbrund gebogenen Stützbalken.
Ein großes Drehrad, in dem zwei kräftige Männer liefen, ächzte unter der Last eines Steinblocks, der aufwärts schwebte. Die eiserne Hebezange am Ende des Seils hatte ihre Krallen in die extra dafür eingeschlagenen Löcher im Stein versenkt. Neugierig trat Judith näher. »Seid vorsichtig, Herrin!«, mahnte der hagere Kranmeister, der an einem dünnen Hanfseil die Ladung lenkte. »Manchmal reißen die Stricke. Sie verschleißen sehr schnell.«
Oben auf dem Gerüst saß ein kahlköpfiger Steinsetzer, der mit seiner Kelle Mörtel auf die bereits liegenden Blöcke schaufelte. Dabei hackte er immer wieder mit der Seitenkante seines Werkzeugs auf die breiige Masse ein, als
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