Das Geheimnis der Äbtissin
zappelnden schwarzweißen Bündel unter dem Arm aus der Richtung des alten Wirtschaftshofs gerannt.
»Ich hab eine!«, rief er schon von weitem und sprang keuchend über eine achtlos abgelegte Hacke. Die Arbeiter stützten sich auf ihre Schaufeln. Einige schielten zu ihr herüber.
Sie stutzte, als sie in der Hand des Mannes eine junge Katze erkannte, deren Schwanzfell borstig abstand. Fauchend versuchte sie immer wieder den Mann zu kratzen, der sie mit festem Griff im Nacken hielt und triumphierend in der Luft schwenkte.
»Was fällt dir ein«, rief Judith, »lass sie sofort los!«
Der Mann, der sie jetzt erst bemerkte, blieb stehen, und sein Blick wanderte zwischen dem fauchenden Tier und der Tochter des Grafen hin und her. Die anderen Arbeiter sahen betreten zu Boden.
»Ihr wisst genau, was der Graf von diesem heidnischen Unfug hält. Und was denkt ihr wird der Bischof dazu sagen, dass ihr Gott dem Herrn so wenig vertraut? Wird Er nicht dafür sorgen, dass die Fundamente seines Hauses fest bleiben?«
An den Gesichtern der Umstehenden sah sie, dass sie richtig vermutet hatte. Sie glaubten, ihren Pfeilern Standfestigkeit zu geben, indem sie ein Wesen aus Fleisch und Blut bei lebendigem Leib unter den Sockeln einmauerten. Wütend starrte sie den Mann an, der das Fellbündel kleinlaut absetzte. Mit einem letzten Fauchen verschwand das Tier hinter einem Holzstapel in der Vorhalle.
Thomas kicherte, als sie zurückgingen. »Sie werden es heimlich trotzdem tun. Der Bischof hat es schon mehrmals verboten. Doch soweit ich weiß, werden die Katzen der Mönche immer weniger, seit hier Fundamente gebaut werden.«
Judith schüttelte sich angewidert. Als sie nach draußen traten, hörten sie lautes Schimpfen vom Gerüst. Sie sah den Steinsetzer, der von oben herab wild mit den Händen fuchtelte und auf den Bischof einredete. Konrad hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das helle Sonnenlicht ab. Erschrocken trat sie einen Schritt zurück und verbarg sich hinter der halbfertigen Wand. Falls Thomas sich über ihr Verhalten wunderte, ließ er es sich nicht anmerken. Er legte seine Messlatte an dem Portal an, auf dem das Tympanon liegen sollte.
»Glaubt mir, ehrwürdiger Bischof. Ich habe viele Mauern errichtet«, hörte sie den Handwerker brüllen. »Diese hier wird unter der Last des Gewölbes einstürzen, wenn sie nicht schon vorher umfällt. Sie ist zu lang für eine tragende Wand!« Irgendetwas klirrte laut. Sie sah, dass Thomas bildhaft den Kopf einzog und grinste.
»Du wirst mauern, wie dir gesagt wird!«, näselte der Bischof wütend.
»Alle modernen Kirchen haben Stützpfeiler am Seitenschiff. Sie verhindern, dass die Wand sich unter der Last des Dachs nach außen wegdrückt. Auch der Baumeister ist meiner Meinung!« Der Steinsetzer ließ sich nicht einschüchtern. »Außerdem sind die Ankersteine bereits gesetzt, wie Ihr seht. Sollen sich die Leute fragen, warum diese Zapfen sinnlos aus der Wand herausragen?«
»Zum letzten Mal«, hörte sie den Bischof fauchen, »ich bin der Bauverwalter, ich sage, wie hier gebaut wird. Deine verdammten Stützpfeiler verderben die Ansicht des Bauwerks. Und die Zapfen wirst du persönlich abmeißeln, gleich heute nach Feierabend, sonst möge dich der Teufel holen!«
»Ojemine, Hochwürden flucht wie ein Ochsentreiber«, murmelte Thomas vor sich hin, während er die Messlatte zum dritten Mal an derselben Stelle des Portals anlegte.
Judith kletterte über die Brücke aus Holzbohlen. Der Bischof stampfte in Richtung Baumeisterhütte davon, ohne sich umzudrehen.
»Er wird schon sehen, was passiert!«, schimpfte der Steinsetzer vor sich hin. »Hoffentlich fällt sie nachts, wenn niemand in der Nähe ist.«
Sie musterte die Mauer skeptisch. »Sie sieht wirklich fest aus.«
Thomas lächelte nachsichtig. »Sie wird aber einen großen Teil des schweren Kirchendachs tragen müssen. Schaut her!« Er hockte sich neben die Bohlen und stellte das Pergament, das seinen Bauplan enthielt, senkrecht auf die Erde. »Das ist unsere Wand. Haltet ihre Enden fest. Seht Ihr, wie gerade sie steht?«
Sie ging ebenfalls in die Hocke und straffte mit beiden Händen den Plan.
Thomas legte seine Messlatte auf den oberen Rand. Das Schriftstück bog sich durch. »Seht Ihr den Bauch? Die Kräfte von oben bewirken ihn. Ist die Mauer zu schwach, drückt sie sich weg und stürzt ein.« Er blickte sich suchend um und fand zwei dünne Holzstücke. Er steckte sie dicht
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