Das Geheimnis der Äbtissin
neben dem Pergament in die Erde und schob sie leicht schräg an den Bauplan. »Diese Stützpfeiler würden das verhindern.«
»Ich verstehe.« Sie erhob sich.
»Ich muss weitermachen«, sagte Thomas bedauernd. »Der Baumeister duldet keine Verzögerungen.«
Sie lächelte ihm zu und sah sich um. Wo blieb nur Ludwig? Hier bei den Gerüsten hatte sie ihn zuletzt gesehen. Doch jetzt war er verschwunden. Sollte sie dem Bischof allein folgen? Sie blickte zur Bauhütte hinüber, deren Tür gerade hinter ihm ins Schloss gefallen war. Sie durfte keine Zeit verlieren.
Die Hütte war aus rohen Brettern gezimmert. Die einzige Tür und ein mit Kuhhaut bespanntes Fenster wiesen zur Basilika. Trotz der Wärme waren sie geschlossen. Zielstrebig ging sie darauf zu. Wenn sie jemanden traf, würde sie vorgeben, nach ihrem Pferd zu suchen. Das mussten selbst Beobachter von der Baustelle glauben, die sie hierher laufen sahen. Hinter der Hütte entdeckte sie die Koppel, auf der mehrere Tiere weideten. Auch ihre Stute hob aufmerksam den Kopf und blickte herüber. Sie erkannte Konrads Pferd und das der Königin. Hügelabwärts grasten die Maultiere der Mönche.
Langsam schlich sie um die Hütte herum. An der Rückwand waren schlanke Fichtenstämme aufgestapelt. Zwei in die Erde geschlagene Pfähle verhinderten ihr Wegrollen. Ein schmales Fenster dicht unter dem dicken Schilfdach lugte knapp oberhalb des letzten Stammes hervor. Diese Öffnung war nicht verhangen, und sie hörte Stimmen. Ohne Zögern setzte sie einen Fuß auf den untersten Baum und zog sich vorsichtig nach oben. Stück für Stück kam sie der Luke näher. Das rauhe Holz der Fichten war warm und klebrig vom Harz. Sie würde sich ihr Kleid verderben.
»Das weiß ich längst!« Beatrix’ Stimme.
Sie kroch vorwärts. Ihr Unterkleid blieb an einem Aststumpf hängen. Es gab ein leises Geräusch, als der Stoff riss. Atemlos lauschte sie.
»Und warum sträubst du dich dann? Du trägst eben etwas länger an dem Kind. Oder du lässt dir ein Kraut geben, das es früher zur Welt bringt. Es handelt sich um wenige Wochen …« Der Bischof klang ungeduldig.
Sie rutschte zwei Stämme weiter empor. Mit der Hand konnte sie bereits das Fenster erreichen. Die Sonne brannte auf dem Rücken, sie fühlte, wie ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern hinabrann. Sie legte sich flach auf die rauhen Hölzer.
»Nur noch dieses eine Mal! Ich fühle mich wie eine …«
»Sprich es nicht aus! Du entweihst diesen heiligen Akt! Sieh her!« Konrads Stimme klang plötzlich belegt. »Ich bin bereit für das Reich.«
Sie hörte ein Schaben, gefolgt von einem Rascheln. Dann ein halblautes Flüstern, beschwörend: »Dieser Schaft ist heilig, er ist geweiht vor Gott dem Herrn.«
Sie schob sich seitlich an das Fenster. Wenn es stimmte, was sie vermutete, musste sie jetzt Zeugen herbeiholen. Langsam hob sie den Kopf und riskierte einen Blick. Ihre Augen gewöhnten sich nur allmählich an das dämmrige Dunkel im Innern der Hütte. Sie erkannte einen Tisch, auf dem sich Pergamentrollen stapelten, auf dem Hocker davor lagen achtlos abgeworfene Beinlinge. In einem geöffneten Tintenfass steckte eine Feder. Daneben sah sie das seltsame Gerät, mit dem Konrad die Lage der Kapelle vermessen hatte.
»Halt still!« Ein Keuchen, dann leises Wimmern.
Die Papyrusrollen begannen zu zittern. Das Tintenfass rutschte ein Stück vorwärts. Judith reckte sich zur Fenstermitte. Jetzt sah sie Beatrix. Ihr Oberkörper lag bäuchlings über dem freien Teil des Tisches, ihr Kopf war zur Seite gedreht, die rechte Hand krallte sich um die Holzkante. Das Unterteil ihres Kleides bauschte sich auf ihrem Rücken. Hinter ihr stand der Bischof. Er hielt den Saum seines Kittels mit den Zähnen fest und bewegte sich so kraftvoll, dass der Tisch Stück für Stück in Richtung Tür rückte. Er hatte die Augen geschlossen und das Gesicht mit einem innigen Ausdruck zur Decke gerichtet, als würde er das Vaterunser beten. Das verkniffene Antlitz der Königin verzerrte sich mit jedem Stoß und schob sich näher an den viereckigen Sonnenfleck, der vom Fenster geformt auf die Tischplatte fiel.
Judith erkannte darin mit Schrecken den Schatten ihres Kopfes. Im selben Moment öffnete Beatrix die Augen. Eine verzweifelte Mischung aus Wut, Abscheu und Begierde lag in ihrem Blick, der die stumme Zeugin sofort erfasste. Erschrocken fuhr Judith zurück und versuchte etwas tiefer Halt zu finden.
»Was ist?«, hörte sie den Bischof
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