Das Geheimnis der Äbtissin
Ihre Hammerschläge klangen verhaltener, ihre Werkzeuge sahen weniger grob aus. Neugierig musterte sie vom Pferd hinab die Blöcke unter den schwieligen Händen.
»Herrin?« Einer der Männer ließ den Hammer sinken und sah sie fragend an.
»Ich suche den Baumeister.«
»Der ist oben im Steinbruch. Die gestern gelieferten Quader waren zu weich.« Der Mann deutete mit einem schmalen Meißel quer über den Bauplatz. »Allerdings findet Ihr den ehrwürdigen Bischof dort drüben, irgendwo am Westwerk.«
Sie wandte sich um, doch zwischen den vielen Arbeitern war kein Konrad zu erkennen. Stattdessen sah sie Ludwig, der mit einem der Männer auf dem Gerüst sprach. Trotzdem nickte sie. »Danke.« Ihr Blick fiel auf eine hölzerne Konstruktion, die vor dem Steinmetz stand und wie ein Teil einer großen Blüte aussah. »Was hast du da?«, fragte sie neugierig.
Der Mann sah auf. »Eine Schablone«, sagte er. »Sie gibt vor, wie der Block hier am Ende auszusehen hat.«
Judith stieg aus dem Sattel und band das Pferd an einen Pfahl, der für die Gespanne der Leiterwagen in die Erde getrieben war. »Und wofür ist der gedacht?« Sie deutete auf einen Stein zu seinen Füßen. Seine Kanten waren gerade wie ein Messerrücken. In der Mitte der glatten Oberfläche erhoben sich zwei Blüten aus dem hellen Kalk und rankten sich umeinander wie Ackerwinden. Die Blütenstiele bildeten ein Oval und umschlangen das gleichmäßige Ornament. Am oberen Rand schmiegten sich zwei herabhängende Blätter an das Motiv. Auf dem halbfertigen Block unter der Hand des Steinmetzes erkannte sie eben dieses Blattwerk wieder. Sie fuhr mit dem Finger an der Blüte entlang und staunte über die kühle Glätte.
»Die Steine gehören zu den Abschlüssen eines Pfeilers. Wir nennen sie Kapitelle.« Er bemerkte ihren aufmerksamen Blick und wies mit dem Hammer auf einen jungen Handwerker hinter ihm. »Thomas arbeitet an dem Tympanon für den Seiteneingang. Seine Arbeit solltet Ihr Euch ansehen.«
Das Gesicht des bezeichneten Mannes lag unter einer feinen weißen Staubschicht. Er konzentrierte sich auf die Spitze seines Meißels und trieb ihn mit vorsichtigen Hammerschlägen in einer Vertiefung eines Steinblocks entlang. Stück für Stück sprangen helle Steinsplitter aus der Fuge und hinterließen eine geschwungene Linie. »Thomas?«
Er schrak auf und starrte sie verdutzt an. Dann riss er seine Kappe vom Kopf, wo schwarzes, lockiges Haar zum Vorschein kam, und verbeugte sich keck. »Herrin?« An seinem Gürtel baumelte ein eisernes Werkzeug, das mit zwei ungleichen Schenkeln offenbar als Maß für den rechten Winkel diente.
»Ich würde mir gern dein …« Wie hatte der Meister den Stein genannt? »… deine Arbeit ansehen.«
Der junge Mann versteckte seine Verwunderung gut und deutete auf die Holzböcke vor ihm. Auf ihnen lag der flache Block, an dem er noch eben konzentriert gearbeitet hatte. Der Stein hatte Ausmaß und Form eines halben Wagenrads. Mit einem kurzen Reisigbesen fegte er das Steinmehl hinunter. Sie trat näher und beugte sich neugierig darüber. Der in der Luft wirbelnde Kalkpuder brannte in den Augen und brachte sie zum Niesen.
Thomas lachte leise. »Ihr solltet warten, bis der Staub sich legt, Herrin.«
Sie winkte ab und wunderte sich über die Ungezwungenheit des jungen Meisters. Bereits auf der Reise von Italien zurück nach Hause war ihr die selbstbewusste Art der Bauleute aufgefallen. Sie wussten, dass sie gute Handwerker waren und dass sie geschätzt wurden. Das nahm ihnen die Unterwürfigkeit, die sie von den Bauern der umliegenden Dörfer gewohnt war.
Auf der linken Seite des Steins entdeckte sie den Kopf und die drohend erhobene Pranke eines Löwen. Aus dessen Maul rankte eine Blattpflanze, deren verschlungenen Stengel Thomas soeben in den Kalkstein hineingetrieben hatte. Sie strich dem Tier über die dichte Mähne, vorsichtig, als würde sie fürchten, es zum Leben zu erwecken. »Er sieht wild und furchterregend aus.«
»Das soll er auch«, entgegnete Thomas und nickte zufrieden. »Immerhin muss er die bösen Geister vom Eingang vertreiben.«
Bis zur Mitte des Portalbogens rankten sich die Blätter. Auf der rauhen Oberfläche der rechten Seite entdeckte sie grob vorgeritzte Muster, die nur schwer zu erkennen waren. »Und hier drüben?«
»Seht her!« Neben seinem Arbeitsplatz hing ein Brett, auf dem ein Pergament festgesteckt war. Sie erkannte die halbrunde Form des Steins und las die Beschriftung: Tympanon südlicher
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