Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
Gedanken nicht ertragen, dass sie eventuell gefoltert würde, selbst wenn sie eine Mörderin war.
Gerardo hatte die Folter am eigenen Leib erfahren. Dieses Gefühl ohnmächtiger Angst, das er selbst durchlebt hatte, als er in den Händen des Henkers gewesen war, war furchtbarer als die Erinnerung an den körperlichen Schmerz.
Selbst in ihrem mörderischen Wahn war Fiamma nichts als ein Opfer.
Er ging auf das Licht zu, das er am Ende des Ganges sah, und kurz darauf betrat er auf Zehenspitzen einen kleinen Saal, der mit von der Feuchtigkeit beinahe vernichteten Fresken ausgeschmückt war. Fiamma, ganz in Schwarz gekleidet, stand mit dem Rücken zu ihm vor einer rechteckigen Platte auf der anderen Seite des Raumes.
Im Licht der beiden hohen Kerzen, die auf Steinblöcken aufgestellt waren, erkannte Gerardo Remigio Sensi, der auf dieser Platte in einem weißen Leinenhemd wie auf einem Opferaltar lag. In ihrer Umgebung konnte man im Halbschatten
die Überreste von drei oder vier menschlichen Körpern in unterschiedlichen Stadien der Verwesung erkennen. Allen waren die Brustbeine aufgesägt und die Rippen aufgebogen worden. Das mussten die Bettler sein, von denen Bonaga gesprochen hatte. Fiamma hatte sie benutzt, um an ihnen zu üben.
»Fiamma«, sagte Gerardo so leise, als befände er sich in einer Kirche.
Sie drehte sich langsam um und starrte ihn überrascht an. Ihr Gewand aus schwarzem, golddurchwirktem Brokat fiel ihr bis auf die Füße und wurde an der Schulter von einer goldenen Brosche zusammengehalten. Auch ihr Mieder und die Schuhe waren aus schwarzem Stoff. Ein dunkler Schleier bedeckte ihre blonden Haare, die ihr offen auf die Schulter fielen. Aus dem ganzen Schwarz hob sich ihr blasses Gesicht wie ein heller Fleck ab.
»Gerardo. Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie ebenso leise.
»Ein gelähmter Junge hat mir das unterirdische Gewölbe gezeigt. Als ich deinen Brief las, wusste ich, dass du diesen Ort meintest.«
Fiamma nickte. »Bonaga. Er hat ihn auch mir vor anderthalb Jahren gezeigt. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich: Jetzt war der Moment gekommen.«
In ihrem Tagebuch hatte Fiamma Bonaga und das unterirdische Gewölbe nicht erwähnt, aber den Tag, an dem sie begonnen hatte, ihren Racheplan umzusetzen. Sie hatte Zugang zu allen Dokumenten ihres Adoptivvaters gehabt und wusste deshalb seit langem, wo sie ihre Peiniger erreichen konnte. Sie hatte ihnen den Brief geschrieben, der sie in die Falle gelockt hatte, und um sie zu überzeugen, hatte sie jedem Schreiben einen in Eisen verwandelten Finger von den Bettlerleichen, an denen sie experimentiert hatte, geschickt. Gleichzeitig hatte
sie diejenigen Templer, die der Verhaftung entkommen und in Remigios Wechselstube vorstellig geworden waren, mit anonymen Schreiben bei der Inquisition angezeigt.
»Sag doch bitte nicht so etwas«, sagte Gerardo. »Es ist immer noch Zeit, um …«
»Wofür? Um bei lebendigem Leib als Hexe und Mörderin verbrannt zu werden? Ich habe Jahre gebraucht, um alles vorzubereiten, und es wird so enden, wie ich es beschlossen habe. Komm nicht näher!«, rief Fiamma.
Gerardo hatte einen Schritt auf sie zugemacht, blieb jedoch unverzüglich stehen. Fiamma umklammerte einen merkwürdigen Pfriem mit dreieckiger Klinge. Dieser lag auf der Steinplatte neben einem Glas, das im Licht der Kerzen bunt schimmerte.
»Der Griff dieses Stiletts ist mit dem Pulver gefüllt, das Blut in Eisen verwandelt«, sagte Fiamma. »Und die Klinge ist hohl. Ein Kratzer genügt, und du wirst eines schrecklichen Todes sterben. Ich bitte dich, zwing mich nicht dazu!«
Gerardo blieb regungslos stehen, doch ein unsäglicher innerer Schmerz quälte ihn. Er wusste, was Fiamma vorhatte, und wollte sie aufhalten, doch er hatte keine Idee wie. Sie ging um die Steinplatte herum, so dass sie ihm nicht mehr den Rücken zuwandte, und mit einer plötzlichen Handbewegung bohrte sie das Stilett in rascher Folge zweimal in Remigios Füße. Der Bankier zuckte kaum auf und ließ nicht einmal ein Stöhnen vernehmen.
»Sein Körper ist gelähmt, er kann jedoch den Schmerz spüren. Jeden einzelnen, und jeden einzelnen hat er verdient«, meinte Fiamma.
Gerardo hatte in ihrem Tagebuch auch die Seiten über Remigio gelesen, der Fiamma als Tochter adoptiert hatte, sie aber seit ihrem dreizehnten Lebensjahr wie eine Ehefrau missbrauchte. Er hatte sich darüber empört und den Wunsch verspürt,
dem Bankier eigenhändig etwas anzutun. Dennoch fühlte er jetzt, als er
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