Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
die unmenschliche Strafe beobachtete, die die junge Frau für ihren Peiniger vorgesehen hatte, gegen seinen Willen Mitleid mit ihm.
Man konnte zusehen, wie Remigio Sensis Adern aufquollen und sich verhärteten. An mehreren Stellen brachen sie durch die Haut wie knotige Wurzeln. Ihre Spur zog langsam seine Beine hinauf. Die Augen, das Einzige, was der Bankier noch bewegen konnte, zuckten fieberhaft hin und her, aber vielleicht nahmen sie auch gar nichts mehr wahr und verloren sich in diesem Meer aus Schmerz und Angst.
»Pilatus, Longinus und Kaiphas sind schnell gestorben«, sagte Fiamma. »Er aber hat mich sechs qualvoll lange Jahre missbraucht. Deshalb verdient er einen langsameren Tod.«
Als Gerardo hörte, dass sie die ermordeten Tempelritter mit diesen biblischen sprechenen Namen belegte, wurde ihm das ganze Ausmaß ihres Wahnsinns bewusst: Fiamma war in diesem Moment nicht bei ihm, ja, nicht einmal bei sich selbst: Ihre Seele war in dieser Grotte in Spanien geblieben, wo sie einen Kampf mit der Verzweiflung über den gleichzeitigen Verlust von Familie, Haus und Schönheit ausgefochten und verloren hatte. Sie verglich sich mit niemand Geringerem als Jesus Christus, dem reinen Lamm Gottes, das für die Sünden der Menschen geopfert worden war. Aber im Unterschied zu Christus verzieh die junge Frau ihren Peinigern nicht. Sie sann geduldig auf ihre Rache, ließ sich von Remigio anstellen und dann adoptieren, um über seine Beziehungen zu den Tempelrittern die Mörder ihres Vaters ausfindig zu machen. Zur Umsetzung ihres Plans ertrug sie sogar die Vergewaltigungen. All die Qualen hatten zwar ihren Körper nicht töten können, wohl aber Fiammas Seele.
Gerardo bezweifelte nicht, dass sie ihn tatsächlich mit dem Stilett verletzen würde, falls er versuchte, sie zu entwaffnen.
Beschämt musste er sich eingestehen, dass er nicht genug Mut hatte, sich demselben Tod wie Remigio auszusetzen.
Die Beine des Bankiers waren jetzt starr wie Baumstämme, und unter der Haut zeichnete sich ein eisernes Geflecht ab. Auf seinem unerbittlichen Weg zum Herzen hatte das Gift nun den Saum des Hemdes erreicht, aber Remigio lebte immer noch. Fiamma starrte ihm in die Augen und beobachtete aufmerksam jedes Aufbäumen seines gequälten Körpers.
»Wie hast du ihn dazu gebracht, dir bis hierher zu folgen?«, fragte Gerardo.
Ohne den Blick von den Augen ihres Stiefvaters abzuwenden, antwortete sie ihm: »Ich wollte meine körperlichen Reize einsetzen, wie schon bei den Bettlern, die du hier liegen siehst.«
Gerardo schaute zu den gemarterten Körpern hinüber, die achtlos an den Wänden des Raumes abgelegt waren.
»Du hast sie benutzt, um dich im Umgang mit der Säge und dem Messer zu üben«, sagte er fassungslos. »Du hast für deine Rache unschuldige Menschen geopfert.«
»Sie waren nicht unschuldig!«, schrie Fiamma auf. »Sie fürchteten diesen Ort, aber ihre Lüsternheit war stärker als ihre Angst. Und sie haben für ihre Sünde mit dem Tod bezahlt.«
»Und Remigio? Wie hast du es angestellt, dass er dir hierhergefolgt ist?«
Fiamma verzog ihre Lippen zu einer Grimasse, die nichts mit einem Lächeln gemein hatte.
»Eigentlich wollte ich ihn zu Hause töten und hier nur meinen Plan vollenden«, sagte sie nachdenklich. »Aber er hat mir dann meine Aufgabe sehr erleichtert.«
Spöttisch erklärte Fiamma - und damit wollte sie wahrscheinlich mehr den Bankier an seinen Fehler erinnern als Gerardo alles erklären -, dass Remigio die Unterredung zwischen
ihm, Mondino und Hugues de Narbonne heimlich belauscht und daraufhin beschlossen hatte, die Gelegenheit zu nutzen, um einen alten Feind loszuwerden. Er hatte einen jungen Adligen zu sich gerufen, der sich bei ihm tief verschuldet hatte, und diesem im Gegenzug für die Ermordung seines Feindes versprochen, seine Schuld zu erlassen. Ein paar Tage darauf hatte er beobachtet, wie Gerardo mit Bonaga redete. Dem verkrüppelten Jungen hatte er dann Geld gegeben, um zu erfahren, was sie besprochen hatten. Dadurch hatte Remigio alles über das unterirdische Gewölbe herausgefunden und den Jungen schließlich beauftragt, den Eingang zu überwachen. Eines Abends hatte ihm Bonaga hinterbracht, dass Gerardo und ein anderer großer, älterer Mann dort hinabgestiegen seien. Remigio war sofort klar gewesen, dass es sich bei Gerardos Begleitung nur um Hugues de Narbonne handeln konnte. Sogleich hatte er nach seinem Schuldner schicken lassen. Dieser hatte dann mit zwei Armbrustschützen am
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