Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
an der der Gang eine Biegung machte. Der Franzose keuchte, aber er war nicht stehen geblieben, weil er erschöpft war. Nun versuchte er mit aller Macht, den Balken wegzudrücken, der die Mauer stützte.
»Hilf mir!«, rief er.
»Aber so werden alle sterben«, sagte Gerardo. Der Gedanke, sich um diesen Preis zu retten, stieß ihn ab.
Hugues warf ihm einen harten Blick zu. »Ich glaube nicht, dass sie sterben werden, und ich versichere dir, dass mir das nicht leidtäte«, knurrte er keuchend, während er sich gegen den Balken stemmte. »Jetzt benimm dich nicht wie ein kleines Kind und hilf mir. Die da werden uns töten und auffressen, wenn sie uns kriegen.«
Diese Drohung schien der Wahrheit beunruhigend nahe
zu kommen. Die Gerüchte über die Angewohnheit von Bettlern, alles zu essen, auch Menschenfleisch, wirkten in diesem Augenblick nicht übertrieben. Und die Schreie ihrer Verfolger schienen bereits ganz aus der Nähe zu kommen. Gerardo sprang dem Franzosen zur Seite und begann, mit aller Kraft den Balken wegzuschieben.
Er sah den Blonden in vier oder fünf Schritten Entfernung auftauchen. Auf dessen bärtigem Gesicht zeigte sich zunächst eine boshafte Freude, dann jedoch Furcht, als er begriff, was die beiden Eindringlinge gerade taten. Er lief schneller, um sich auf sie zu stürzen, doch im selben Augenblick gab der Balken endlich nach: Ihrer Stütze beraubt, fiel die einsturzgefährdete Mauer einfach in sich zusammen, riss dabei einen Teil der Decke mit und versperrte den Gang.
»Rennen wir«, sagte Hugues. »Ich weiß nicht, wie lange sie brauchen werden, um den Durchgang wieder zu öffnen.«
Sie beeilten sich, bis sie an den Trümmerhaufen kamen, durch den man den Gang verlassen konnte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, doch der beinahe volle Mond beleuchtete hell die Steine.
Hugues kletterte geschickt über die Trümmer, und diesmal fiel Gerardo nicht zurück. Als sie durch die Spalte in dem eingestürzten Haus nach draußen gestiegen waren, blieben sie beide stehen und atmeten tief durch. Erst jetzt, in der kühlen Nachtluft, fiel ihnen auf, wie verräuchert und stickig es in dem unterirdischen Gewölbe gewesen war. Jäh fuhr der Franzose herum - sein in jahrelangen Kämpfen geschärfter Instinkt hatte ihn gewarnt.
»Runter!«, schrie er und sprang wieder zurück in die Spalte.
Gerardo folgte ihm instinktiv, ohne nachzudenken. Sie stolperten mehr über die Trümmer, als dass sie hinunterkletterten, während drei Pfeile aus einer Armbrust über ihre Köpfe hinweg zischten. Von oben hörte man jemanden unterdrückt fluchen.
»Ein Hinterhalt«, sagte Gerardo leise, stand mühsam auf und massierte sich seine geprellte Schulter.
Hugues de Narbonne nickte, immer noch keuchend. »Sie haben uns erwartet.«
»Ich verdanke Euch mein Leben, Kommandant.«
Hugues schüttelte den Kopf. »Das verdankst du deiner Geistesgegenwart.«
»Wer, glaubt Ihr, sind die?«, fragte Gerardo und deutete mit dem Kopf nach oben.
»Ich habe keine Ahnung. Zuerst müssen wir aber lebend hier herauskommen, dann können wir uns das alles fragen.«
Ganz offensichtlich hatten diese Männer nur auf sie gewartet und waren daran gewöhnt, stumm zu töten. Bis auf das Zischen der Pfeile und den unterdrückten Fluch hatte kein Geräusch ihre Anwesenheit verraten. Nun hörte Gerardo, wie sie sich hinter den Pfeilern des eingestürzten Hauses leise miteinander berieten.
»Ergebt euch und kommt mit erhobenen Händen heraus«, sagte schließlich eine heisere Stimme. »Wir werden euch kein Haar krümmen.«
Hugues antwortete auf Französisch mit einem Satz, den Gerardo nicht ganz verstand, der ihm jedoch aus dem Mund eines Mönchs äußerst vulgär erschien, vor allem aus dem eines Mönchssoldaten. Es klang wie: »Schert euch zum Teufel und lasst es euch von hinten besorgen!«
Auf der anderen Seite des Spalts herrschte Schweigen, das vielleicht auf diese Antwort in einer fremden Sprache zurückzuführen war. Aus dem Gang hinter ihnen waren inzwischen wieder die wütenden Stimmen der Bettler zu vernehmen. Anscheinend war es ihnen mittlerweile gelungen, einen Durchlass an der Einsturzstelle frei zu räumen, und sie würden es bald so verbreitert haben, dass sie hindurchkamen.
Auf der einen Seite die Bettler, auf der anderen die Armbrustschützen.
Gerardo drehte sich um und sah Hugues de Narbonne an. Erst da bemerkte er im Schein des Mondes das dunkle Blut in seinen Haaren.
»Ihr seid verwundet«, sagte er.
»Das ist
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