Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
nichts«, antwortete der Franzose. »Ich habe mir den Kopf an einem Stein gestoßen.«
Dann sackten ihm die Knie weg, und er wurde bewusstlos.
Gerardo konnte ihn gerade noch auffangen, damit Hugues nicht mit dem Gesicht auf den Boden fiel und lehnte ihn gegen einen großen Stein. Die Stimmen aus dem Gang waren jetzt deutlicher zu hören. Schon bald würden die wütenden Bettler über sie herfallen.
Ihm brach der Schweiß aus. Er war allein und musste jetzt entscheiden, ob er von der Hand der Bettler sterben oder sich in einer Verzweiflungstat den Pfeilen stellen wollte. Leise kletterte er wieder nach oben bis zur Spalte. Sobald sein Kopf dort im Halbdunkel auftauchte, zischte jedoch ein Pfeil an seinem Ohr vorbei, und er duckte sich sofort wieder.
Ein Schmerzensschrei ertönte. Einer der Schützen war getroffen worden. Aber von wem? Als Gerardo vorsichtig den Kopf hob, sah er, wie zwei dunkle Gestalten aus dem Schutz einer Säule hervorkamen, um etwas hinter ihnen anzugreifen. Das war der Moment. Er würde keine zweite Gelegenheit bekommen. Zitternd zog Gerardo seinen Dolch und warf sich nach vorn.
Mondino blieb lange am Tisch des großen Raumes sitzen. Plötzlich hörte er ein Geräusch aus dem Zimmer seines Vaters, und da er glaubte, der alte Mann sei aufgewacht, schlich er auf Zehenspitzen hin. Als er sah, was dort vorging, konnte er seinen Ärger nicht unterdrücken.
»Lorenza!«, zischte er drohend.
Die Frau tuschelte mit Gabardino und hielt eine Holztasse
mit Milch in der Hand. Als sie ihren Namen hörte, drehte sie sich ruckartig um. Ihr Gesicht unter der weißen Haube, die ihre Haare bedeckte, war hochrot geworden. Mondino bedeutete ihr, sie solle zu ihm in die Küche kommen, und dort machte er ihr schwere Vorwürfe, dass sie seine Anordnungen missachtet hatte. Lorenza brach in Tränen aus, die Tasse noch in Händen. Daraufhin legte sich Mondinos Wut ganz plötzlich wieder und wich einer tiefen Traurigkeit.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst meinem Vater niemals Milch geben«, sagte er. »Milch regt die feuchten Säfte an, von denen er schon zu viel hat.« Vielleicht würde die Frau seine Anordnungen eher befolgen, wenn er ihr den Grund dafür mit einfachen Worten erklärte. »Kurz gesagt, wenn man ihm warme Milch zu trinken gibt, könnte das seinen Tod beschleunigen.«
»Diese Milch ist anders«, flüsterte sie mit gesenktem Kopf. »Und sie schmeckt ihm doch so gut.«
Nun klang Mondinos Stimme verärgert. »Ich diskutiere nicht mit dir über meine Anordnungen. Wenn ich dich noch einmal dabei sehe, dass du meinem Vater Milch gibst, wirst du aus diesem Haus gejagt. Hast du verstanden?«
Lorenza nickte zweimal mit gesenktem Kopf, dann fragte sie ihn, ob er etwas essen wolle. Mondino entließ sie mit einem barschen Wink und blieb allein in der Küche zurück. Ehrlich gesagt hatte er schon ein flaues Gefühl im Magen, doch er wusste genau, dass dies kein Hunger war. Nur eine nervöse Reaktion auf seine Angst. Statt etwas zu essen oder zu versuchen, sich ein wenig auszuruhen, zog er es vor, über den Schlaf seines Vaters zu wachen, und schickte seinen ältesten Sohn zu Bett.
Als er dort auf einem unbequemen Stuhl saß, den er sich aus dem großen Zimmer geholt hatte, stellte Mondino erstaunt fest, dass er trotz all der Anstrengungen dieses Tages nicht müde war. Schuldgefühle quälten ihn. Sein Vater lag im Sterben, und er konnte nicht an seiner Seite sein. Seine Söhne
brauchten in dieser schwierigen Zeit jemanden, der sie anleitete, eine Autorität, die ihnen dabei half, das Rätsel und die Realität des Todes anzunehmen - doch er war nie da. Und das Schlimmste war, dass er ihnen nicht einmal die Gründe für seine Abwesenheit erklären konnte.
Ob er sich dem Schmerz auf diese Weise entziehen wollte oder weil der wissenschaftliche Teil seines Verstandes stets die Oberhand gewann, konnte er selbst nicht genau sagen, jedenfalls begann Mondino, über die Krankheit seines Vaters nachzudenken. In den Leichen, die er studierte, hatte er zahlreiche Tumore gesehen. Zusammenballungen aus organischem Material, die tatsächlich wie sich an die Organe oder Knochen klammernde Krebse aussahen und so den Namen »Karzinom« rechtfertigten, den Hippokrates vom griechischen karkinos , Krebs, abgeleitet hatte. Manchmal waren diese Karzinome eine feste, kompakte Masse. Andere breiteten sich mit Fisteln oder Metastasen bis zu den Organen in ihrer Umgebung aus und wirkten eher wie eine bösartige Krake. In diesem
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