Das Geheimnis der Alchimistin - Historischer Kriminalroman
flüchtig in den Silberspiegel an der Wand und ging wieder in die Küche.
Gerade als er in den Hof hinaustreten wollte, bemerkte Mondino, dass jemand hinter ihm stand. Er drehte sich hastig um und sah Liuzzo in der Tür des großen Raums stehen, in Nachthemd und Schlafmütze und Filzpantoffeln an den Füßen. Er starrte ihn nur stumm an.
»Onkel, ich muss gehen. Ein Mann ist verletzt und braucht dringend meine Hilfe.«
»Dann werde ich gehen. Bleib bei deinem Vater. Heute könnte sein letzter Tag sein.«
Mondino spürte, wie dieser Satz ihn bedrückte. Liuzzo hatte Recht, und dennoch konnte er nicht gehen. Es stand zu viel auf dem Spiel: seine Freiheit und die seiner Familie. In diesem Moment hasste er seinen Onkel, der ihn so bedrängte.
»Ich muss gehen«, brachte er durch die zusammengepressten Zähne hervor. »Ich kann es Euch nicht erklären, aber …«
»Ich bin diese Dinge leid, die du nicht erklären kannst!«, rief Liuzzo aus, ohne die Türschwelle freizugeben. »Sag mir, was wichtiger sein kann, als deinem Vater in den letzten Stunden seines Lebens beizustehen, zum Teufel noch mal!«
Dieser Fluch aus dem Mund seines Onkels klang so unangemessen, dass es Mondino die Sprache verschlug. Er schüttelte langsam den Kopf und meinte dann: »Heute werde ich meine Vorlesung nicht halten können. Ich bitte Euch, mich zu ersetzen, Onkel.«
»Aber sicher werde ich dich ersetzen, mach dir keine Sorgen. Allerdings nicht nur heute, sondern für immer! Wenn du dieses Haus verlässt, ohne mir zu sagen, wohin und warum du gehst, sind wir geschiedene Leute!«
Mondino ließ die Schultern hängen, wandte sich Gerardo zu, der auf der Straße wartete, und verließ schweigend das Haus. Er zog die Tür hinter sich zu.
Ein Abschnitt seines Lebens war beendet. Alles um ihn herum brach zusammen.
Guido Arlotti beglückwünschte sich dazu, dass er nicht der Müdigkeit nachgegeben hatte und schlafen gegangen war - sonst hätte er diese günstige Gelegenheit verpasst. Ein Arzt von Mondinos Ruf verließ nicht im Morgengrauen das Haus, um einen Patienten zu besuchen, wenn es sich nicht um einen äußerst schweren Fall handelte.
Oder um etwas, das gegen das Gesetz verstieß.
Er folgte den beiden Gestalten höchst vorsichtig in einem Abstand von zwanzig Schritten. Der Arzt hatte sehr gute Ohren und hätte ihn am Vorabend beinahe entdeckt. Auch dieses Mal schien er zu spüren, dass er verfolgt wurde, denn auf dem Weg durch die Stadt drehte er sich mehrmals um. Da Guido nun wusste, mit wem er es zu tun hatte, lief er keine Gefahr, entdeckt zu werden. Er hielt sich an die noch im Dunklen liegenden Bogengänge und hastete von einer Säule zur nächsten.
Als er ein Geräusch hörte, drehte er sich ruckartig um und hob die Fäuste angriffsbereit vor die Brust. Nachts tat man gut daran, in der Straßenmitte zu laufen wie Mondino und sein Begleiter. Dort musste man zwar auf Schlammpfützen, Pferdemist und den unebenen Boden achten, aber zumindest vermied man unangenehme Überraschungen, die einen aus dem Schatten eines Hauseingangs oder hinter der Säule einer Arkade überfallen konnten. Zwischen zwei Säulen hatte Guido dieses Geräusch gehört: das Rascheln von Stoff und keuchendes Atmen. Er zückte seinen Dolch, den er unter dem Gewand verborgen trug, und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Da bemerkte er im Dunkeln eine unförmige Masse, die sich als zwei ineinander verschlungene Körper entpuppte: ein Mann und eine Frau in Lumpen, zwei Herumtreiber, die kein Dach über dem Kopf besaßen, wohin sie nachts heimkehren konnten, die aber dennoch die Zeit und die Lust hatten, sich den Vergnügungen des Fleisches hinzugeben.
Guido entspannte sich und nahm seine hastige Verfolgung wieder auf. Im Straßengewirr der Stadtmitte wählten die beiden Männer immer schmalere und schlechter beleuchtete Wege. Sie unterhielten sich erregt, und Guido hätte einen Goldflorentiner gegeben, um zu verstehen, was sie sagten, denn er war sich sicher, dass er vom Inquisitor das Doppelte dafür erhalten hätte. Doch leider konnte er nicht noch näher an die beiden herankommen, und so musste er sich damit begnügen,
sich in den wenigen verbliebenen dunklen Winkeln herumzudrücken. Die Morgenröte färbte die Mauern bereits rosa. Mondino und sein Begleiter gingen durch die Arkaden, in denen die Seidenhändler ihren Sitz hatten, betraten das Viertel mit den Fischhandlungen und bogen schließlich in die Via delle Clavature ein, die ihren Namen
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