Das Geheimnis der antiken Kette
betrachtete Rue die anderen Steine. Söhne, Töchter, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, sogar Enkelkinder, von denen die meisten erwachsen geworden waren, lagen hier begraben. Offenbar war Jonathans und Elisabeths Verbindung sehr fruchtbar gewesen, und das tröstete Rue ein wenig. Mehr als alles andere hatte ihre Cousine sich eine Menge Kinder gewünscht.
Als Rue sich umdrehte, schrak sie bei dem Anblick eines hübschen jungen Mannes zusammen, der neben dem Metalltürchen kauerte und die quietschenden Angeln ölte. Er lächelte, und etwas an seiner Miene war unglaublich vertraut.
»Freundin der Familie?«, fragte er freundlich. Rue stufte ihn als die Art von Jungen ein, die in allen Theateraufführungen der Highschool die Hauptrolle spielen und das hübscheste Mädchen in seiner Klasse zum Abschlussball führt.
Sie gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Das könnte man sagen. Und Sie?«
»Jonathan und Elisabeth Fortner waren meine Ururgroßeltern.« Er stand auf. Dieser große junge Mann mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen sah Bethie überhaupt nicht ähnlich, und doch berührten seine Worte eine Seite tief in Rue.
Einen Moment war sie völlig sprachlos. Jedes Mal, wenn sie sich mit einem Aspekt dieser Zeitreise abfand, tauchte ein anderer auf.
Rue zwang sich zu einem Lächeln und streckte die Hand aus. »Man könnte wohl sagen, dass Bethie – Elisabeth – meine Ururcousine war. Mein Name ist Rue Claridge.«
»Michael Blake«, erwiderte er und drückte fest ihre Hand.
Rue forschte in ihrem Gedächtnis, konnte sich jedoch nicht erinnern, dass Tante Verity jemals diesen Zweig der Familie erwähnt hätte. »Leben Sie in Pine River, Michael?«
Er schüttelte den Kopf, und wieder kam es Rue so vor, als würde sie etwas wiedererkennen. »Seattle. Ich gehe auf die Universität. Ich komme nur gelegentlich gern hier heraus und … also … ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll. Es ist so, als gäbe es da eine unsichtbare Verbindung und als wäre ich eines der Bindeglieder. Ich glaube, auf diese Art sage ich ihnen – und mir selbst –, dass ich die Kette nicht unterbrochen habe.«
Rue nickte nur. Sie dachte an die überwältigende Bedeutung, die eine einfache Entscheidung oder ein zufälliges Ereignis haben konnte. Wäre Bethie nicht in jene andere Dimension, oder was immer es war, gestolpert, dann hätte Michael wahrscheinlich nie existiert. In der Tat hatte es vor ein paar Monaten, als Elisabeth noch nicht über die Schwelle getreten war und sich in ihren Landarzt verliebt hatte, sicher noch keinen Michael Blake gegeben. Das würde erklären, warum Tante Verity nie von ihm oder seiner Familie gesprochen hatte.
Andererseits war Michael zu einem jungen Mann herangewachsen. Er besaß ein Leben, eine Vergangenheit. Er war genauso real wie jeder andere, dem sie je begegnet war.
In Rues Kopf drehte sich alles.
»Fühlen Sie sich gut?«, fragte Michael und half ihr auf eine nahe Bank. »Sie sehen blass aus.«
Rue setzte sich dankbar und rieb sich die Schläfe mit zitternden Fingern. »Es geht mir gut. Ehrlich.«
Michael holte ein kleines Notizbuch aus seiner Jackentasche. »Meine Großmutter würde Sie gern kennenlernen, da Sie eine entfernte Verwandte sind. Sie wohnt bei meinen Eltern in Seattle. Wollen Sie sie irgendwann einmal anrufen?«
»Danke, Michael.« Sie nahm einen Zettel mit einer Telefonnummer entgegen und verabschiedete sich.
Michael war schon lange in einem kleinen blauen Sportwagen weggefahren, als Rue endlich von der Bank aufstand und wieder an das Grab ihrer Cousine trat. Hast du dir überlegt, was es bedeutet, die Geschichte zu verändern, Bethie? dachte sie. »Vielleicht sollte ich die Finger davon lassen«, murmelte sie, während ein Schauer goldener, scharlachroter und brauner Blätter von den umstehenden Ahornbäumen auf die Grabstelle niederging. »Vielleicht wäre es besser, so zu tun, als würde ich die offizielle Erklärung für dein Verschwinden glauben, Bethie. Aber das kann ich einfach nicht. Selbst wenn ich Wellen schlagen muss, die man bis in dieses Jahrhundert hinein fühlen kann, muss ich dich selbst sagen hören, dass du dort bleiben willst. Ich muss dir in die Augen sehen und wissen, dass du selbst deine Entscheidung verstehst.«
Und ich muss Farley Haynes wiedersehen …
Anstatt heimzukehren, fuhr Rue nach Seattle.
Zuerst suchte sie eine Münzhandlung auf, wo sie eine teure Kollektion von Scheinen und Münzen kaufte, die zwischen 1880 und 1892
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