Das Geheimnis der Apothekerin
der hinter den Vorhängen im Zimmer ihrer Mutter saß, mit seinen kleinen Fingern das Rosenmuster nachzeichnete und immer wieder dieselben Zahlen vor sich hinmurmelte: » Vierundsiebzig, fünfundsiebzig, sechsundsiebzig, siebenund … vierundsiebzig, fünfundsiebzig, sechsundsiebzig … «
»Auf jeden Fall«, fuhr Mr Marlow fort, »bin ich sicher, dass irgendwo da draußen eine Frau ist, die mir nicht wegen eines Mannes einen Korb gibt, der doppelt so alt ist wie ich.«
»Da gibt es ganz sicher viele.« Sie hatte ihn nur trösten wollen, doch ein Blick in seine Augen ließ die Alarmglocken in ihrem Kopf klingeln.
Er streckte die Hand aus und berührte eine Haarsträhne an ihrem Hals. »Sie sind Balsam für mich, Miss Haswell. Süßer Balsam.«
Sie trat zurück. »Aber jetzt muss ich gehen.« Sie drehte sich um und machte sich rasch an den Abstieg.
Er hielt mit ihr Schritt. »Darf ich Sie begleiten?«
»Ich bin auf dem Weg zu einer Familie, die sich gerade von einem Fieber erholt. Ich glaube nicht, dass Sie …«
»Wie edelmütig von Ihnen.« Er nahm ihre Hand und zog sie unter seinen Arm.
Als sie ins Dorf kamen, entzog sie ihm vorsichtig ihre Hand und hielt angemessenen Abstand zwischen ihnen. Als sie über den zu dieser Zeit völlig verlassenen Friedhof gingen, spähte er durch das Tor, zog sie plötzlich hinter die hohe Ligusterhecke und presste sie an sich, einen Arm diagonal von ihrer Schulter bis zur Taille um sie gelegt. Sein Mund berührte ihre Schläfe.
Er war groß und stark und gekränkt und einen kurzen Augenblick gestattete sie sich, die warme Kraft seines Arms, der sie umfing, zu genießen, doch dann entzog sie sich ihm. Mit der freien Hand versuchte er, ihr Kinn zu nehmen und ihr Gesicht zu sich zu drehen, doch sie wandte sich ab.
»Mr Marlow, bitte!«
»Sie haben recht. Verzeihen Sie mir.«
»Ich weiß, dass Sie sich verraten fühlen. Aber glauben Sie wirklich, es wird leichter, wenn Sie mit einem Ersatz spielen?«
»Es würde den Schmerz zumindest betäuben.«
»Für wie lange? Und um welchen Preis für mich? Wenn uns jemand gesehen hätte …«
»Ihr Bruder zum Beispiel?«
Sie hatte an Dr. Graves gedacht. »Eigentlich meinte ich …«
»Dort sitzt er nämlich.«
Sie drehte sich um und schaute: Tatsächlich, da saß Charlie, an Grady Miltons Grabstein gelehnt. »Hallo, Lilly. Hallo, Mr Marlow.«
»Was machst du hier«, fragte sie.
Charlie zuckte die Achseln. »Tote Leute zählen.«
Lilly seufzte und dachte: Ich mache mir eher um die Lebenden Sorgen.
Trotzdem war sie erleichtert, ihren Bruder zu sehen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass Roderick Marlow sich sonst nicht so leicht hätte überzeugen lassen.
Dr. Graves hielt Wort und kam am Nachmittag, um nach ihrem Vater zu sehen. Er versprach, von jetzt an regelmäßig vorbeizukommen und seine Fortschritte im Blick zu behalten. Sie hatte das Gefühl, dass er sich auf diese Aussicht freute, und dachte, wenn er tatsächlich nach Bedsley Priors gekommen war, um ihr weiter den Hof zu machen, hätte er keinen plausibleren Grund finden können, sie so häufig zu sehen. Auf jeden Fall war Lilly ihm grenzenlos dankbar dafür, dass er die medizinische Betreuung ihres Vaters übernommen hatte.
Charlie kam aus dem Garten herein und Lilly stellte ihren Bruder dem neuen Arzt vor.
»Graves 1 heißen Sie?«, wiederholte Charlie verwirrt. »Ein komischer Name für einen Arzt, oder?«
Sie war erleichtert, dass Dr. Graves keinen Anstoß an der Bemerkung zu nehmen schien.
Danach bat Dr. Graves sie, ihm ein Gasthaus zu empfehlen, in dem er seine Mahlzeiten einnehmen konnte. Sie schlug ihm sogleich das Kaffeehaus vor und erklärte, dass die Besitzerin eine liebe Freundin der Familie sei.
An der Tür zögerte er. »Wären Sie vielleicht so freundlich, mir den Weg zu zeigen?«
Sie verbiss sich ein Lächeln. »Aber gern, Sir.«
Sie setzte ihren Hut auf und legte einen Schal um und trat dann durch die Tür, die er ihr aufhielt, auf die High Street hinaus. Er ging neben ihr über den schmalen Hinterhof und war schon einige Schritte weiter, ehe ihm auffiel, dass sie gleich am Haus gegenüber stehen geblieben war.
»Hier ist es schon.«
Sie lächelte ihn an und er lächelte zurück. Da waren auch wieder die Grübchen, an die sie sich so gern erinnerte, und die strahlend blauen Augen, die in der Nachmittagssonne leuchteten.
Sie führte ihn hinein und stellte ihn Mrs Mimpurse und Mary vor. Ihre Freundin betrachtete den Arzt mit größerem
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