Das Geheimnis der Apothekerin
Schultern. Sie wollte ihm den Brief geben, doch er machte eine abwehrende Handbewegung. »Lies du ihn.«
Sie erbrach das Siegel und entfaltete das edle Büttenpapier. »Die Untersuchungsbehörde der Apothekergesellschaft, Blackfriars, London.«
Er runzelte die Stirn. »Erspar mir das Drumherum und sag mir einfach das Schlimmste.«
»Gut. ›Uns wurde mitgeteilt, dass ein gewisser Charles Haswell III. eine gepanschte, potenziell schädliche Arznei ausgegeben hat.‹«
Ihr Vater tobte. »Sie kennen noch nicht einmal die Tatsachen!«
»Falls weitere, ähnlich lautende Berichte eingehen, bleibt der Gesellschaft keine Wahl, als rechtliche Schritte gegen die erwähnte Person einzuleiten.«
»Die erwähnte Person? Rechtliche Schritte? Aus dem fernen London? Völliger Unsinn. Was für ein Lärm um nichts!«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Ist das alles? Eine Drohung? Ein Klaps auf die Hand aus der Ferne?«
»Ich kann es kaum glauben«, sagte Lilly. »Kann das wirklich alles sein?«
»Ich wünschte, es wäre so.«
»Wünschen reicht nicht, Vater. Wir müssen darum beten.«
Ihr Vater blickte aus dem Fenster des Behandlungszimmers. »Wenn wir doch nur Ackers überzeugen könnten.«
Die Tage vergingen langsam. Das Warten kam Lilly endlos vor. Selten hatte sie sich so hilflos gefühlt, so frustriert und so voller Angst. Sie besuchte Charlie jeden Tag, ebenso wie Mrs Mimpurse, Mary, Francis und ihr Vater, wenn er dazu in der Lage war. Und sie betete. Doch als es fast vierzehn Tage her war, dass man Charlie verhaftet hatte, spürte sie, wie ihre Hoffnung schwand. Hatte sie nicht auch vergeblich um die Rückkehr ihrer Mutter gebetet? Darum, dass ihr Vater wieder gesund wurde? Nützte das Beten überhaupt etwas?
Doch dann wurde alles anders, von einem Augenblick zum anderen. In der einen Minute saßen sie und ihr Vater noch vor vollen Tellern mit Essen, das sie weder richtig wahrnahmen noch essen mochten, in der nächsten stand Charlie in der Tür. Dreckig, stinkend und einfach wundervoll anzusehen.
»Ist noch genug da für einen mehr?«, fragte er und schaute auf ihr Frühstück.
Lilly schnappte nach Luft, sprang auf und schloss ihren Bruder in die Arme. Auch ihr Vater erhob sich auf zittrigen Beinen und drückte Charlies Schulter, sank aber gleich wieder schwer auf seinen Stuhl zurück. Seine Besserung hatte nicht angehalten.
»Setz dich doch, Charlie! Ich kann es nicht glauben! Erzähl! Was ist passiert?«
Er setzte sich hin und beide sahen ihn erwartungsvoll an. Charlie blickte sehnsüchtig auf ihr Frühstück.
»Oh – hier, bitte.« Lilly schob ihm ihren Teller hin.
Sie warteten ungeduldig, während er mehrere Bissen nahm, doch dann drängte Lilly: »Was ist passiert?«
Charlie hob die Schultern und sagte, den Mund voll kaltem Schinken: »Mr Ackers kommt rein und sagt: ›Charlie, Junge, heute ist dein Glückstag. Mr Marlow hat gesagt, dass du für ihn arbeitest und dass er dich braucht. Jetzt ist er für dich verantwortlich, also Schluss mit dem ganzen Weibergetue.‹«
Lilly schüttelte fassungslos den Kopf.
»Ich glaube es nicht! Mr Marlow! Und das, obwohl er dich aus dem Vertrag entlassen hatte!«
»Wahrscheinlich braucht er mich für seinen großen Garten.«
Lilly bezweifelte, dass der Garten Charlie wirklich so nötig hatte, aber sie sagte nichts. Sie hatte keinen Zweifel, dass Mr Marlow als Gutsherr und künftiger Baronet großen Einfluss auf den Konstabler hatte. Außerdem waren die beiden alte Jugendfreunde. Sie fragte sich flüchtig, warum sie nicht selbst daran gedacht hatte, ihn um Hilfe zu bitten.
»Gut«, sagte sie, schwindelig vor Erleichterung, »jetzt gehen wir und danken Mr Marlow persönlich.«
Nach dem Frühstück spannten sie und Charlie Pennywort an und fuhren im Boot zum Marlow House. Als sie näherkamen, sah Charlie, dass Mr Timms den Liguster an der Quelle beschnitt, und fragte, ob er aussteigen und mit ihm reden dürfe. »Gut. Aber dann komm gleich zum Haus«, meinte Lilly.
Sie lenkte das Pferd zum Stallgebäude und erwartete, dass Cecil Briggs herauskam, um die Leinen zu nehmen, doch stattdessen erschien Roderick Marlow selbst, in Reitkleidung und Reitstiefeln.
Lilly wurde rot, als er so plötzlich vor ihr stand, und platzte heraus: »Mr Marlow, ich bin gekommen, um Ihnen zu danken.«
Er blickte sie an und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Adlergesicht ab. »Ihr Bruder wurde also freigelassen?«
»Ja, dank Ihrer Bemühungen.«
»Das freut mich zu hören.«
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