Das Geheimnis der Apothekerin
leisten, jeden Abend essen zu gehen, wie Mr Shuttleworth es macht. Ich habe normalerweise immer ein paar Eier, Brot und Käse vorrätig; das genügt mir völlig.«
»Sie wirken immer sehr besorgt wegen des Geldes, Mr Baylor. Bezahlt Mr Shuttleworth Sie denn nicht anständig?«
»Er bezahlt mich mehr als anständig. Ich … nun ja, ich gebe meinen Lohn nicht aus.«
»Was machst du denn dann damit?«
Er atmete scharf ein und rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her. »Lass uns bitte von etwas anderem sprechen.«
»Gern. Worüber denkst du nach, wenn du hierher kommst?«
Sie spürte, dass er mit den Achseln zuckte.
»Über alles, was mich gerade beschäftigt. Mein Vater war genauso. Er wollte immer über seine Entscheidungen reden, bevor er sie traf.«
»Mit deiner Mutter?«
»Ja, auch mit ihr. Mein Vater war ein Fischer aus North Somerset. Er sagte immer, wenn die Apostel es nötig hatten, dass der Herr ihnen sagte, wo sie ihre Netze auswerfen sollten, dann könne auch er nichts Besseres tun, als den Herrn um seine Leitung zu bitten.« Als das Echo seiner Stimme verklungen war, blickte er zu ihr hinüber. »Fühlst du dich jetzt in der Lage aufzustehen?«
»Natürlich.« Sie erhob sich vorsichtig. Er nahm ihre Hand und zog sie geschickt unter seinen Arm, um sie zu stützen.
»Ich begleite dich nach Hause.« Er nahm die Lampe auf.
»Und was wird aus deiner Zeit des ruhigen Nachdenkens?«
»Ach, weißt du, heute Abend bin ich aus einem anderen Grund hergekommen.«
Als sie auf den Friedhof hinaustraten, schaute sie im Mondlicht auf sein Profil. »Hast du dich wirklich so verändert?«, fragte sie.
»Ich hoffe, ich bin verantwortungsbewusster, als ich es als Junge war, aber das war ja zu erwarten.« Er ging neben ihr die High Street hinauf. »Weißt du, wenn ein junger Mann und eine Frau vor zehn Jahren dabei beobachtet worden wären, wie sie allein aus einem dunklen Gebäude kommen … nun, ihre Eltern hätten darauf bestanden, dass sie gleich am nächsten Morgen heiraten.«
»Keine Sorge, Mr Baylor«, sagte sie lachend, »niemand wird Sie zwingen, vor den Altar zu treten.«
»Ich habe mir absolut keine Sorgen gemacht.«
Er klang vollkommen ernst und sie war seltsam verwirrt, als ihr leichtes Geplänkel plötzlich von einem verlegenen Schweigen abgelöst wurde.
Er räusperte sich. »Aber ich … ich nehme an, dass dies bald das Privileg eines anderen Mannes sein wird.«
Sie sagte nichts dazu. Es wäre indiskret und voreilig gewesen, seine Vermutung zu bestätigen. Andererseits war Dr. Graves tatsächlich von London hierhergezogen, um in ihrer Nähe zu sein. Doch sie war ihm dankbar, dass er sie nicht unter Druck setzte, indem er sich ihr erklärte, sondern ihr Zeit ließ, sich um ihren Vater zu kümmern, damit dieser wieder gesund wurde. Und jetzt musste sie erst einmal noch Charlie helfen. Sie hatte Francis wirklich gern, aber sie konnte nicht zulassen, dass er sie einem Gentleman wie Dr. Graves abspenstig machte.
Als sie die Haswell-Apotheke erreichten, sagte Francis: »Ich werde weiter für dich und die anderen Mitglieder deiner Familie beten, wo sie auch sein mögen.« Dann drückte er ihre Hand. »Und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«
40
Ich war einst verloren, nun bin ich gefunden,
war einst blind, doch nun sehe ich.
John Newton, Amazing Grace, 1772
Das dunkle Haus glich einem runden, fensterlosen Getreidesilo mit einem kegelförmigen Dach. Die meisten Dörfer in Wiltshire und den umliegenden Grafschaften besaßen ein solches Gebäude als vorübergehenden Verwahrungsort für Übeltäter.
Lilly klopfte an die verschlossene Tür. »Charlie? Geht es dir gut?«
Zuerst hörte sie gar nichts. Sie drückte das Ohr an die Tür. Irgendwann vernahm sie dann ein Schlurfen und Charlies gedämpfte Stimme: »Es ist so furchtbar dunkel hier, Lilly. Man kann überhaupt nichts sehen.«
»Wir holen dich da raus, Charlie. Sobald wir können.«
»Gar nichts sehen …«
Als sie die Not in der Stimme ihres kleinen Bruders hörte, presste sie ihre Stirn an das Holz und versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten.
»Versuch, Geräusche zu zählen, Charlie«, sagte sie mit einer Ruhe in der Stimme, die sie nicht empfand. »Vogelstimmen, vorbeigehende Pferde. Was immer du hörst. Ja?«
Keine Antwort. Dann ein schwaches: »Gut.«
Oh Gott , betete Lilly, das darf nicht sein. Bitte hilf uns .
»Es ist im Grunde eine ärztliche Angelegenheit oder vielmehr eine Apothekersache«, sagte
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