Das Geheimnis der Apothekerin
Elliott, die Augen fest auf ihre Stickerei gerichtet.
»Ja. Von Mary.«
Lilly wollte nicht so tun, als verliefen ihre Tage so gewöhnlich, wie es das Landleben Marys zweifellos war.
Sie seufzte.
Ihre Tante, die gerade einen Faden in der Farbe bischofsblau durch das Leinen zog, sah auf. »Ist alles in Ordnung, Liebes?«
»O ja. Nur die gewöhnlichen Nettigkeiten.« Sie faltete den Brief zusammen. »Das Blau gefällt mir sehr.«
Ich schreibe ihr morgen , beschloss Lilly. Oder sobald ich dazu komme .
»Mr Adam Graves«, kündigte Fletcher an und gab die Tür zum Wohnzimmer frei.
Lilly schrak zusammen und stand abrupt auf, sodass der Brief zu Boden fiel.
Dr. Graves trat ein und verbeugte sich. »Miss Haswell.«
Sie knickste und hob dabei verlegen den Brief auf.
«Kennen Sie meine Tante, Mrs Elliott?« Lilly hoffte, dass er ihre Begegnung in der Apothekerstraße nicht erwähnen würde.
»Ja, Ma'am, ich kenne sie.« Er verbeugte sich erneut, wobei ihm eine dicke blonde Haarsträhne erst in die Stirn fiel und dann, als er sich aufrichtete, wieder zurückglitt.
Ihre Tante nickte, blieb aber mit ihrer Handarbeit sitzen.
»Mit Ihrer Erlaubnis, Ma'am, ich wollte fragen, ob Miss Haswell mich auf einer Fahrt durch den Park begleiten dürfte. Vielleicht morgen Nachmittag?«
Der Gesichtsausdruck ihrer Tante war höflich, doch als sie sich an Lilly wandte, war ihr Blick forschend und vielsagend zugleich.
»Soviel ich weiß, haben wir morgen Nachmittag eine Verabredung. Werden wir nicht bei den Langtrys erwartet, mein Liebes? Weißt du es noch?«
Lilly erkannte sogleich, wie klug ihre Tante reagiert hatte. Sie gab ihr durch ihre Frage die Gelegenheit zu einer Absage – wenn sie, Lilly, es wollte. Lilly wusste, dass es ihrer Tante lieber wäre, wenn sie den Mann nicht ermutigen würde, aber sie würde ihr die Ausfahrt trotzdem nicht verbieten. Er hatte immerhin in Oxford studiert und musste daher aus einer Familie von zumindest mäßigem Reichtum kommen.
Sie schluckte. »Ich glaube, das verwechselst du mit Freitag, Tante. Ich erinnere mich nicht, dass wir morgen etwas vorhätten.«
»Wirklich? Nun, du weißt das besser als ich. Dein ausgezeichnetes Gedächtnis. Aber ich bin gar nicht so sicher, dass ich mir selbst ein solches wünsche.«
Dr. Graves räusperte sich. »Ausgezeichnet. Ich werde sofort eine Kutsche bestellen. Ich habe meine eigene nicht in die Stadt mitgebracht.«
Tante Elliotts Brauen hoben sich.
»Ich benutze die Kutsche meines Bruders, aber er braucht sie morgen.«
Lilly biss sich auf die Lippen. Wusste er denn nicht, dass im Hyde Park keine Mietdroschken erlaubt waren? »Dr. Graves, machen Sie sich doch keine Mühe. Ich mache genauso gern einen Spaziergang.«
»Wirklich? Sind Sie sich ganz sicher?«
»Ja. Zu Hause gab es nur eins, das ich noch lieber mochte als einen schönen Spaziergang.«
»Und was war das?«
Sie warf einen raschen Blick zu ihrer Tante hinüber und wechselte das Thema. »Wann darf ich Sie erwarten?«
Dr. Graves holte Lilly pünktlich zum ausgemachten Zeitpunkt zu dem versprochenen Spaziergang im Hyde Park, der nicht weit vom Haus ihres Onkels und ihrer Tante entfernt lag, ab. Er trug einen weinroten Stresemann mit einer gemusterten Weste und eine hellbraune Hose. Ihre Tante konnte jedenfalls nicht sagen, dass seine Kleidung nicht de rigueur war.
Lilly selbst trug ein Ausgehkleid aus elfenbeinfarbenem, gestreiftem Musselin und einen lilafarbenen Satinschal. Ihre Tante hatte ihr außerdem zu einer voluminösen Oldenburger Haube geraten – vielleicht damit die Bekannten von Mr Bromley sie nicht mit einem anderen Mann zusammen sahen.
Es war jedoch höchst unwahrscheinlich, dass sie jemanden treffen würden, den sie kannte, denn so früh am Nachmittag waren im Hyde Park nur sehr wenige Besucher zu sehen. Die Hautevolée pflegte erst nach halb fünf aufzutauchen; um diese Zeit sah man dann Unmengen eleganter Kutschen und noch eleganterer Roben. Es wurden Wettrennen veranstaltet, man machte dem anderen Geschlecht schöne Augen und flirtete, bis es Zeit wurde, heimzufahren und Abendkleidung anzulegen.
An diesem Nachmittag fanden auch keine Militärparaden oder dergleichen statt, die ihre Zweisamkeit gestört hätten. Lilly und Dr. Graves flanierten durch das Netz der schön angelegten Spazierwege und rund um den Serpentine-See. Lilly tat ihr Bestes, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen; sie deutete auf Blumen, die in voller Blüte standen, auf ein Eichhörnchen, das auf
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