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Das Geheimnis der Apothekerin

Das Geheimnis der Apothekerin

Titel: Das Geheimnis der Apothekerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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Männer mit Schürzen trugen eine Bahre herein, auf der eine Gestalt lag.
    Lilly stieg eilig die Stufen hinauf, warf jedoch, halb oben, einen raschen Blick zurück. Hinter den beiden Assistenten kam ein Mann, den sie an dem mit altem, getrocknetem und frischem Blut bespritzten Kittel als Wundarzt erkannte.
    »Miss Haswell«, drängte Dr. Graves von hinten. »Bitte!«
    Sie ging weiter, Dr. Graves dicht hinter sich. Inzwischen saßen die Studenten dicht gedrängt wie die Heringe in den Bankreihen. Sie stießen einander und reckten die Köpfe, um nach unten sehen zu können.
    Immer, wenn jemandes Sicht behindert war, sei es durch einen Kommilitonen oder den Arzt unten, wurde der Ruf »Köpfe, Köpfe« laut. Der Saal war erfüllt von Erwartung, leisem Lachen und Pfiffen, die Kommilitonen am anderen Ende des Saals galten. Das Ganze machte absolut nicht den Eindruck einer bevorstehenden Operation, sondern eher den eines makabren Sportereignisses.
    Als die Tür hinter ihnen zufiel, sagte ihr Begleiter ernst: »Miss Haswell, bitte, verzeihen Sie mir. Wenn ich geahnt hätte, dass heute operiert wird … hätte ich … ich hätte Sie niemals einem solchen Anblick ausgesetzt.«
    Gerührt von der Sorge in seinen Augen und seiner Stimme holte sie tief Luft und überdachte, was sie gerade gesehen hatte. »Ich muss zugeben, ich war froh, nicht die Operation selbst mitansehen zu müssen, aber der Vorlesungssaal, die Stationen und die Krankenhausapotheke, ja das ganze Hospital fand ich sehr interessant.«
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Er schüttelte den Kopf, die Augen aufgerissen – ob aus Überraschung oder Unglauben, wusste sie nicht.
    Während sie weitergingen und der Lärm hinter ihnen leiser wurde, sagte Lilly: »Wenn ich operiert werden müsste, würde es mir überhaupt nicht gefallen, von einer solchen Menge beobachtet zu werden.«
    »Mir auch nicht. Es sind meistens die Armen, die hierhergebracht werden. Sie nehmen die Zuschauer in Kauf, weil sie sich nur auf diese Weise eine Behandlung leisten können. Wohlhabendere Patienten werden zu Hause operiert. Meistens auf dem Küchentisch.«
    Sie nickte, ohne etwas zu sagen. In Bedsley Priors mussten die Leute den Wundarzt aus Wilcot rufen, wenn eine Operation nötig war. Ihr Vater nahm nur kleinere Eingriffe vor.
    »Leider ist die Sterblichkeitsrate erschreckend hoch. Deshalb werden solche Eingriffe nur im äußersten Notfall vorgenommen, als letztes Mittel sozusagen. Ich bin froh, wenn ich mich auf die Aufgaben eines normalen Arztes beschränken kann, aber ich glaube, in den Dörfern muss ein Mediziner alles machen.«
    Sie stiegen die Treppen hinunter und standen wieder in dem langen Hauptkorridor.
    »Haben Sie denn vor, sich irgendwo in einem Dorf niederzulassen? Das hätte ich nicht von ihnen gedacht.«
    Er zuckte die Achseln und fragte dann schüchtern: »Missfällt Ihnen der Gedanke?«
    »Absolut nicht. Warum sollte er?«
    Er schwieg und betrachtete sie eindringlich. »Kann es wirklich sein, dass Sie so vollkommen sind?«
    Lilly fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie warf ihm einen Blick zu und sah, dass er ebenfalls errötete.
    »Wohl kaum vollkommen, nein.« Wieder war sie versucht, ihm vom Beruf ihres Vaters, ja sogar vom Verschwinden ihrer Mutter zu erzählen. Ihre Tante wollte doch ganz sicher nicht, dass sie einem Mann, der ihr den Hof machte, diese Dinge verschwieg!
    Als sie in die angenehm frische Luft draußen im Hof traten, sagte er: »Wenn Ihr Vater noch lebte, würde ich ihn um die Erlaubnis bitten, mit ihm zu sprechen.«
    Sie antwortete verwirrt: »Aber er lebt doch.«
    Er starrte sie an. »Wirklich? Du meine Güte, was für ein Irrtum. Mir hat man gesagt, dass Sie ein Mündel der Elliotts seien.«
    »Das bin ich auch. Aber keine Waise. Mein Vater ist wohlauf und lebt in Wiltshire.«
    »Ah ja. Nun, das ändert alles. Glauben Sie, ein Brief würde genügen?«
    Da war er wieder, der zaghafte, an sich selbst zweifelnde Mann.
    Sie hatte Angst, ihn falsch verstanden zu haben.
    »Was für ein … was für einen Brief meinen Sie?«
    Wieder wurde er rot. »Einen Brief, in dem ich mich ihm vorstelle und … nun ja, mein Interesse zum Ausdruck bringe.«
    »Interesse daran, mir den Hof zu machen?«, platzte sie heraus. Wie weit hatte sie sich von der subtilen Sprache des Flirtens entfernt, die ihr beizubringen ihre Tante sich so viel Mühe gegeben hatte!
    »Nun … ja. Fürs Erste.«
    »Dann ist wohl mein Onkel derjenige, mit dem Sie noch vor meinem Vater sprechen

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