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Das Geheimnis der Apothekerin

Das Geheimnis der Apothekerin

Titel: Das Geheimnis der Apothekerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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einem Baum saß und schimpfte, und auf die Dandys, die hin und wieder in hochsitzigen Phaetons an ihnen vorbeifuhren. Doch was auch immer sie sagte, Dr. Graves nickte nur oder murmelte eine leise Zustimmung. Er wirkte eindeutig zerstreut.
    Schließlich sagte er mit einem hörbaren Entschluss: »Miss Haswell, Sie haben mich neulich nach meinen Ängsten gefragt.«
    »Sie brauchen nicht …«
    »Doch«, beharrte er und stieß die Luft aus. »Ich glaube, ich habe die eigentliche Ursache gefunden, wenn ich auch keine Prognose abgeben kann und vor allem keine Behandlung weiß. Ich bin der jüngste von drei Söhnen, wie ich, glaube ich, schon erwähnt habe. Wir wurden alle drei auf ein Internat geschickt, das bekannt war für seine unerschütterliche Disziplin. Doch gegen meinen Vater war sogar der Direktor dieses Instituts ein nachgiebiger Mann. Wenn wir nicht taten, was er sagte, hatte das jedes Mal äußerst harte Konsequenzen. Bis zum heutigen Tag habe ich Mühe, mich gegen eine Autorität zu behaupten oder mich in irgendeiner Weise einer Anordnung zu widersetzen. Ich war bereits fünfundzwanzig, als ich die erste eigene, wichtige Entscheidung traf.«
    Sie sah ihn an und fragte zaghaft: »Und was war das, wenn ich fragen darf?«
    Seine leuchtend blauen Augen zwinkerten. »Ihnen … Ihnen den Hof zu machen.«
    Sie spürte, wie sie rot wurde. Ihr Herz klopfte süß und schwer. Mehrere Minuten gingen sie schweigend weiter, dann hob er erneut an, ziemlich abrupt: »Ich muss Ihnen sagen, dass ich schon einmal verlobt war, doch die Dame hat die Verlobung wieder gelöst.«
    »Oh!« Sie war bestürzt. »Das … das tut mir leid.«
    Er sah sie kurz an, blickte dann wieder weg. »Mein Vater hatte sie ausgesucht, doch ich fürchte, weder sie noch ihre Mutter billigten den Beruf, den ich gewählt hatte. Der Gedanke an Krankenhäuser, Verletzungen und Krankheiten … das alles stieß sie ab.«
    Lilly nickte verständnisvoll.
    »Ich nehme an, die Medizin erregt in vielen Menschen Widerwillen«, fuhr er fort. »Geschwüre und Gewächse, Infektionen und Körperflüssigkeiten …« Er hielt inne und wandte sich erschrocken zu ihr. »Verzeihen Sie!«
    Lilly antwortete sanft: »Wegen mir brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«
    »Dieses Thema stößt Sie nicht ab?«
    »Nein. Lediglich zu Mahlzeiten ist es nicht gerade mein Lieblingsthema.«
    »Natürlich. Aber Sie werden nicht ohnmächtig oder müssen sich übergeben?«
    Lilly schüttelte den Kopf.
    Er blieb auf der Allee stehen und sah sie bewundernd an. Sie war versucht, ihm zu erzählen, warum sie ihn verstand, aber in ihrem Kopf meldete sich flüsternd die Stimme ihrer Tante und riet ihr zur Vorsicht.
    »In diesem Fall …«, er zeigte ein bei ihm seltenes Lächeln, »gibt es einen Ort, den ich Ihnen gerne zeigen würde.«
    Das Lächeln hatte sein Gesicht völlig verändert. Die Stirnfalten waren verschwunden, an ihrer Stelle kräuselten sich ein paar Fältchen um seine Augen und seine Grübchen vertieften sich.
    Du meine Güte … Lilly spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, als sie ihn ansah. Sie war froh, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte.

12

    Hinschwinden fern! Vergessen und versenken,
Was man auf deinem Zweig dich nie gelehrt;
Die Müdigkeit, das Fieber und das Kränken,
Hier, wo man nur des andern Seufzer hört.
    John Keats, Dichter und approbierter Apotheker, 1819
    Dr. Graves nahm eine Mietdroschke, die sie zu dem riesigen, beeindruckenden Guy's Hospital im Südosten Londons brachte.
    »Ich möchte, dass Sie sehen, wo ich im letzten Jahr meine Tage und manchmal auch meine Nächte verbracht habe. Hier durchlaufe ich alle Stationen, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Offiziell bin ich ein ewiger Medizinstudent und zahle eine hübsche Summe für dieses Privileg. Oder vielmehr, mein Vater bezahlt.« Er zeigte ein schiefes Grinsen, seine blauen Augen funkelten. »Aber jetzt habe ich endlich die Prüfung für das Lizenziat abgelegt und werde bald erfahren, ob ich sie bestanden habe oder nicht.«
    Als sie eintrafen, bezahlte er den Fahrer und half Lilly beim Aussteigen. Sie genoss die Gelegenheit, ihre behandschuhte Hand in die seine zu legen, wie flüchtig auch immer.
    Er führte sie durch die schmiedeeisernen Tore in den offenen Hof, der auf drei Seiten von dem vierstöckigen Bau aus graubraunen Backsteinen flankiert wurde und einen recht düsteren Eindruck machte. Mitten im Hof stand die Statue von Thomas Guy, der das Hospital vor etwa einem Jahrhundert gegründet

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