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Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Titel: Das Geheimnis der Eulerschen Formel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yoko Ogawa
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immer noch. Irgendwo heulte eine Sirene auf, die jedoch sofort vom Donner verschluckt wurde.
    »Das Wunderbare an der Null ist jedoch nicht allein, dass sie als Zeichen fungiert oder als Messgröße, sondern dass sie selbst eine Zahl ist. Eine Zahl, die um 1 kleiner ist als die kleinste natürliche Zahl 1. Entgegen der Auffassung der Griechen stört die Null keineswegs die Ordnung des Systems, sondern macht sie widerspruchsfrei und somit solider. Stellen Sie sich einen kleinen Vogel vor, der auf einem Ast sitzt und ein Lied zwitschert. Er hat einen lieblichen Schnabel und ein hübsches Gefieder. Sie betrachten ihn verzückt, aber sobald Sie Luft holen, fliegt er auf und davon. Auf dem Ast bleibt nicht einmal sein Schatten zurück. Nur das Laub zittert noch ein wenig.«
    Der Professor zeigte hinaus in den dunklen Garten, als wäre dort tatsächlich soeben ein kleiner Vogel aufgeflogen. Durch den starken Regen wirkte die Nacht noch undurchdringlicher.
    »1 – 1 = 0. Das ist eine wunderschöne Gleichung, finden Sie nicht?«
    Er drehte sich zu mir. Ein weiterer Donnerschlag erschütterte den Pavillon, das Licht im Haus der Witwe fing an zu flackern. Dann fiel plötzlich der Strom aus, und einen Moment lang war es stockdunkel. Ängstlich packte ich den Professor am Ärmel.
    »Sie müssen keine Angst haben«, sagte er zu mir und streichelte meine Hand. »Das Wurzelzeichen ist sehr solide. Es gewährt allen Zahlen Zuflucht und Schutz.«
    Wie nicht anders zu erwarten, kehrte Root wohlbehalten zurück. Als Geschenk brachte er dem Professor einen schlafenden Hasen mit, den er aus Zweigen und Eicheln gebastelt hatte. Er legte ihm den Hasen auf den Schreibtisch. An den Pfoten des Hasen haftete die Notiz:
Ein Geschenk von
(der Sohn der Haushälterin)
.
    Ich erkundigte mich bei Root, ob sie im Zeltlager das Unwetter gut überstanden hatten, worauf er erwiderte, es hätte dort überhaupt nicht geregnet. Schlussendlich war der einzige Schaden durch einen Blitz entstanden, der in einen Ginkgo eingeschlagen war, der neben einem Schrein in der Nähe des Gartenpavillons stand.
    Die Hitze kehrte zurück und mit ihr das Zirpen der Grillen. Die Vorhänge und der Fußboden waren am Tag nach dem Gewitter schon wieder trocken.
    Roots vorrangiges Interesse galt wie immer den Tigers. Er hatte gehofft, dass sie während seiner Abwesenheit wieder die Tabellenführung übernehmen würden, aber leider liefen die Dinge nicht so wie gewünscht. Die Tigers waren auf den vierten Rang zurückgefallen, nachdem sie auch das Spiel gegen den Spitzenreiter verloren hatten.
    »Habt ihr sie auch ordentlich angefeuert, als ich weg war?« fragte Root traurig.
    »Doch, natürlich«, erwiderte der Professor.
    Root hegte offenbar den Verdacht, dass die Mannschaft wegen der mangelnden Anteilnahme des Professors so schlecht spielte. »Aber Sie wissen doch gar nicht, wie man das Radio einschaltet.«
    »Deine Mutter hat es mir gezeigt.«
    »Wirklich?«
    »Ja, wirklich. Sie hat sogar den richtigen Sender gefunden, damit ich mir die Übertragung anhören kann.«
    »Aber die Tigers gewinnen nicht, wenn Sie einfach nur still dasitzen und zuhören.«
    »Ich weiß, und deswegen habe ich sie mit großer Begeisterung angefeuert. Die ganze Zeit habe ich gefleht, Enatsu möge einen Schlagmann nach dem anderen auswerfen.«
    Der Professor erfand alle möglichen Ausreden, um Roots Misstrauen zu zerstreuen.
    Schon bald kehrten wir zu unserer alten Angewohnheit zurück, beim Abendessen Radio zu hören. Das Gerät, das oben in der Küche auf dem Geschirrschrank stand, hatte eigentlich einen guten Empfang, nachdem der Professor es zur Reparatur gegeben hatte. Das gelegentliche Knistern lag also nicht am Radio selbst, sondern am schlechten Empfang im Gartenpavillon.
    Wir drehten den Ton immer leise, bis das Spiel anfing. Dadurch wurde es normalerweise von den alltäglichen Geräuschen übertönt. Wenn ich in der Küche herumhantierte, draußen auf der Straße ein Motorrad vorbeifuhr, der Professor Selbstgespräche führte oder Root nieste, konnte man nicht einmal sagen, ob es überhaupt eingeschaltet war. Wenn hingegen Stille herrschte, war leise Musik zu hören. Immer waren es Lieder aus alten Zeiten, deren Titel man längst vergessen hatte.

9
    Eines Tages gegen Ende der Sommerferien bemerkte ich, dass der Professor eine geschwollene Wange hatte. Die Tigers hatten gerade ein Auswärtsspiel gewonnen und waren bis auf zwei Punkte an den Tabellenführer herangekommen.
    Der Professor

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