Das Geheimnis der Götter
davon fehlt, und deswegen bin ich hier.«
Abi-Shemu machte ein erstauntes Gesicht.
»Ihr sucht in Byblos nach einem Geheimnis des Osiris?«
»Ja, ich suche einen Sarkophag.«
»Einen Sarkophag«, wiederholte der Prinz und betonte jede einzelne Silbe. »Meint Ihr damit etwa die alte Geschichte, nach der er bis in den Garten dieses Palastes gelangt sein soll, wo er dann von den Zweigen einer wunderbar wachsenden Tamariske vor den Blicken der Weltlichen verborgen wurde?
Das ist nichts weiter als eine Geschichte!«
»Zeigt Ihr mir die Stelle trotzdem?«
»Selbstverständlich, aber Ihr werdet enttäuscht sein.«
»Ich habe hier noch eine Botschaft von einem Priester aus Heliopolis für Euch.«
Der Libanese hatte den Brief, der auf Phönizisch verfasst war, unterzeichnet. Auf einige Höflichkeitsfloskeln folgte ein klarer Befehl:
Töte Isis, die Oberpriesterin von Abydos, unauffällig. Ihr Tod muss wie ein Unfall aussehen. Wenn du das tust, greift der Prophet dein Land nicht an und wird dich großzügig belohnen. Unsere Handelsbeziehungen werden wieder aufgenommen.
Der Ausdruck ›Handel‹ bereitete Abi-Shemu die allergrößte Freude. Als Lieferant verbotener Waren, die in die Schiffe des Libanesen verfrachtet wurden, hatte der Herr über Byblos die Unterbrechung dieser Beziehung schmerzlich gespürt. Da diese zerbrechliche junge Frau dafür verantwortlich zu sein schien, musste sie verschwinden.
»Wollt Ihr Euch nicht erst etwas ausruhen und…«
»Ich möchte diesen Garten sehen.«
»Wie Ihr wünscht. Da ich wegen dringender Angelegenheiten in den Palast muss, wird Euch mein Verwalter dorthin begleiten.«
Zedern, Pinien, Tamarisken, Olivenbäume… Langsam ging Isis durch den Garten und suchte nach einer alten Tamariske, die groß genug war, einen Sarkophag zu verbergen. Ihr Beschützer war an Bord des Schiffs geblieben und fehlte ihr jetzt sehr.
Vor ihr tauchte eine Gruppe von Frauen mit ernsten Gesichtern auf. Hinter ihr eine zweite – zwei weitere rechts und links. Es gab keine Fluchtmöglichkeit.
Die Frauen waren vornehm gekleidet und geschminkt und gehörten offenbar zur phönizischen Oberschicht. Langsam zog sich das Netz zu.
»Du bist eine Diebin und Schänderin!«, beschuldigte sie eine von ihnen. »Du dachtest, du könntest einen bösen Zauber über uns sprechen und uns unfruchtbar machen! Dank der Wachsamkeit unseres Prinzen werden wir dich aber daran hindern, Schaden anzurichten.«
»Ihr täuscht euch.«
»Willst du unseren Prinzen etwa der Lüge bezichtigen? Du bist eine Verbrecherin aus der Fremde und wirst in Ägypten wegen böser Zauber verfolgt. Wir alle werden dich jetzt steinigen und deine Leiche ins Meer werfen.«
Die Meute kam näher.
»Ich bin Isis, die Oberpriesterin von Abydos, und…«
»Dein Gerede wollen wir gar nicht erst hören! Wenn es um so verkommene Geschöpfe geht, kennen wir kein Erbarmen.«
Isis sah den mordlustigen Frauen ins Auge und öffnete ihr Haar zum Zeichen der Trauer. Sekari hatte Recht behalten: Das hier war eine vollkommene Falle, es würde aussehen, als wäre sie ertrunken.
Die Anführerin wollte gerade das Zeichen zum Angriff geben.
»Wartet noch!«, befahl eine schöne, reife Frau, die sich nicht erst Gehör verschaffen musste. »Der zarte Duft, den diese Haare verströmen, riecht nicht nach einer Hure.«
Die wütenden Frauen überzeugten sich selbst.
»Würdet Ihr es wirklich wagen, die Prinzessin von Byblos anzulügen und Euch mit einem erschlichenen Titel zu schmücken?«
»Nein, mein Vater, Pharao Sesostris, erzog mich dazu, mich der Aufgabe als Oberpriesterin der heiligen Stadt des Osiris würdig zu erweisen.«
»Was wollt Ihr dann hier?«
»Ich muss den Sarkophag des Osiris, der in diesem Garten versteckt ist, nach Abydos mitnehmen. Euer Gatte, der Prinz, hat mir dazu die Erlaubnis erteilt.«
Laute Ausrufe, leises Gemurmel und allgemeine Aufregung beschwichtigten die Angriffslust der Hofdamen. Mit einer Handbewegung scheuchte sie die Prinzessin auseinander.
»Folgt mir«, befahl sie Isis. »Dafür verlange ich eine Erklärung.«
39
Bekleidet mit dem weißen Umhang des Osiris vereinte Sesostris viermal Himmel und Erde, indem er sich jeder Himmelsrichtung einzeln zuwandte. Den Hals in einen Schal aus rotem Leinen gehüllt, dem Zeichen für Res Licht, das die Finsternis vertreibt, weihte er den neuen Tempel für Osiris. In sechs Fundamenten befanden sich Schalen und Becher aus gebranntem Ton, Steinschleifer, winziges Werkzeug aus
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