Das Geheimnis der Götter
beschränkte sich nicht länger auf das Unsägliche. Die zeitliche Begrenztheit war nicht mehr wichtig, nur das Ewige zählte im Leben. Welche Prüfungen er auch immer bestehen musste, er würde versuchen, sie so gelassen anzugehen, als beträfen sie ihn nicht.
Ein Sonnenstrahl fiel auf ein kleines, mit Lotusblüten verziertes Kästchen aus Akazienholz. Sehotep musste lächeln, als er daran dachte, dass eben so ein Kästchen an seinem Elend schuld war. Trotzdem zeugte dieses bescheidene kleine Meisterwerk von der pharaonischen Kultur, in der der Geist in vielfältiger Form dargestellt wurde – von der einfachen Hieroglyphe bis hin zur gewaltigen Pyramide.
»Wesir Sobek wünscht Euch zu sprechen«, meldete ihm sein Verwalter.
»Führ ihn auf die Terrasse und bring uns kühlen Weißwein aus dem Jahr eins des Sesostris.«
Der Beschützer hätte Sehotep auch vorladen können, aber er zog es vor, ihn zu Hause zu verhören und so noch mehr in die Enge zu treiben.
Sobek konnte mit diesem vornehmen Mann mit seinen feinen Gesichtszügen und den vor Klugheit nur so funkelnden Augen nichts anfangen. Da war aber noch etwas, was er nicht verstand: Warum hatte Chnum-Hotep die Anklage gegen ihn nicht unterzeichnet? Dafür gab es vielleicht eine einfache Erklärung: den Schrecken des Todeskampfs, eine Hand, die sich verkrampft hatte und nicht mehr fähig war, den Willen ihres Besitzers auszuführen. Oder aber der Wesir hatte nicht an Sehoteps Schuld geglaubt und wollte erst weitere Untersuchungen abwarten, ehe er ein Mitglied des Königlichen Rates vor das höchste Gericht von Ägypten stellte.
»Verhört der Richter einen voreilig verurteilten Schuldigen oder besteht noch ein Rest an Zweifel?«, fragte Sehotep. Sobek lief mit finsterer Miene wortlos auf und ab.
»Du könntest wenigstens die Aussicht genießen«, empfahl ihm sein Gastgeber. »Von dieser Terrasse aus sieht man die Weiße Mauer von Menés, die Ober-und Unterägypten vereint, und all die vielen Tempel dieser unvergleichlich schönen Stadt.«
Plötzlich blieb Sobek stehen und wandte Sehotep den Rücken zu.
»Den Ausblick genieße ich vielleicht ein andermal.«
»Soll man denn nicht jede Gelegenheit wahrnehmen?«
»Stehe ich hier vor dem Anführer der Aufständischen in Memphis, der für zahllose verabscheuungswürdige Morde verantwortlich ist, oder nicht? Das ist meine einzige Frage an dich.«
»Um sich gut einzuführen, muss der neue Wesir erst einmal seine Stärke unter Beweis stellen. Nachdem mein Schicksal bereits beschlossene Sache ist, gedenke ich, meine letzten Stunden in trügerischer Freiheit zu genießen.«
»Da kennst du mich aber schlecht, Sehotep!«
»Hast du etwa nicht Iker des Verrats beschuldigt und ins Gefängnis werfen lassen?«
»Das war ein bedauerlicher Irrtum, ich gebe es zu. Aber meine neuen Aufgaben verlangen noch mehr Umsicht und Scharfblick von mir.«
Sehotep streckte ihm die Fäuste entgegen. »Leg mir die Fesseln an.«
»Soll das ein Geständnis sein?«
»Wenn man mich zum Tode verurteilt, musst du mich eigenhändig töten, Sobek. Denn ich bin nämlich nicht bereit, mich selbst umzubringen, und werde bis zur letzten Sekunde meine Unschuld beteuern.«
»Dein Standpunkt erscheint mir unhaltbar. Hast du denn die Beweise vergessen?«
»Wenn es um Vertuschungen und Fälschungen geht, sind unsere Feinde zu erstaunlichen Leistungen fähig. Wir sind unserem Recht unterworfen, nun werden wir zu seinen Opfern!«
»Hältst du unsere Gesetze für ungerecht?«
»Jede Gesetzgebung hat ihre schwachen Stellen. Die Richter und allen voran der Wesir sind jetzt gefragt, diese auf ein Mindestmaß zu beschränken, indem sie die Wahrheit jenseits des Augenscheins suchen.«
»Du wolltest mich töten, Sehotep!«
»Nein.«
»Du hast die magischen Figuren angefertigt, die mich töten sollten.«
»Nein.«
»Nach mir wolltest du den Pharao töten.«
»Nein.«
»Seit Monaten unterrichtest du deine Mitverschworenen über die Entscheidungen des Königlichen Rates und warst ihnen immer behilflich, den Sicherheitskräften zu entkommen.«
»Nein.«
»Deine Antworten sind etwas kurz, findest du nicht auch?«
»Nein.«
»Deine Klugheit wird dich nicht vor der höchsten Strafe bewahren, und die Beweise gegen dich sind erdrückend.«
»Welche Beweise?«
»Dass der Brief keinen Absender trägt, stört mich, ich gebe es zu. Trotzdem klingt er in Zusammenhang mit den Absichten der Aufständischen sehr überzeugend.«
Sehotep sah dem Wesir statt
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