Das Geheimnis der Haarnadel
anzusetzen braucht, und unter dem Mikroskop wird die Täuschung offenbar. Wenn die Oxydation des Kupfers (und nichts anderes ist ja die Patina) fortschreitet, dringen bei der Zersetzung kleine Risse immer tiefer in das Metall ein, so daß ein Muster entsteht wie die Äste eines Baumes, was deshalb auch Verästelung genannt wird. Der springende Punkt ist jedoch, daß diese Verästelungen, wenn sie über einen langen Zeitraum hinweg natürlich entstehen, unregelmäßig sind wie Bäume im Wald; werden sie jedoch von Menschenhand künstlich und rasch hergestellt, wirken sie tatsächlich unnatürlich – sie sind steif und mechanisch, wie die Bäume rund um ein Puppenhaus! Und das gilt auch für Silber. Was ich unter dem Mikroskop sah, waren genau diese kleinen, regelmäßigen Bäumchen.
Und während ich noch überlegte, wie diese zwei oder drei kleinen Anomalien und die Zweifel, die die Fingerabdrücke aufgeworfen hatten, zusammenhängen mochten, war es, daß Mr. Silchester mir zu Hilfe kam, der der Meinung war, ich solle mit dem Akt, den ich eben spielte, zu Ende kommen und einen neuen beginnen. Wie Ihnen wahrscheinlich nicht entgangen ist, konzipiert er eine Arbeit, von der wir, wie ich hoffe, noch mehr hören werden – >1760, der Höhepunkt unserer Kultur< –, und als er seine ersten Geistesblitze dazu erläuterte, fiel dabei das Wort >ausgewogen<. Und als er dieses Wort gar noch wiederholte, gab er mir, wie es so oft bei uns beiden geschieht, einen Gedanken ein, fast noch bevor ich begriff, was er bedeutete – die Idee zu einem Experiment. So zog ich, der ich ihm ja meinerseits eine Anregung gegeben hatte, die seine eigene Kreativität auf dem Felde der Geschichtsschreibung zweifellos ebenso stimulierte, denn das Papiermesser unter dem Objektiv des Mikroskops hervor und begann zu prüfen, wie es ausbalanciert war. Als ich den Schwerpunkt fand und es dann zur Spitze hin kippte« – Mr. M. führte es uns vor –, »kam mir der entscheidende Gedanke. Natürlich sind solche Nadeln, wie schon erwähnt, so gewichtet, daß sie aus den Locken der Trägerin nicht herausfallen. Außerdem wußte ich, daß ich keine voreiligen Schlüsse ziehen durfte. Und die beste Art, das zu vermeiden, ist einfach nicht auf die Gedanken zu achten, die sich herausbilden, und die beste Art dies wiederum zu vermeiden ist aufzuspringen und etwas ganz anderes zu tun. So schlug ich Mr. Silchester vor, den nächsten Zug zu nehmen und hierher zu kommen.
Als wir hier waren, entwickelte Sark uns seine Theorie überzeugend aus den Indizien. Mehrfach spürte ich, daß es als eine ziemliche Dummheit erscheinen müßte, wenn ich ihm widerspräche. Aber ich fand doch, daß ich sicherheitshalber alle Zweifel überprüfen sollte, die ich hegte. Zuerst verriet mir unsere bewundernswerte Jane, bewundernswert in ihrer Gesprächigkeit ebenso wie in ihren anderen Leistungen – glauben Sie mir, nicht daß Menschen zuviel reden, langweilt uns, sondern daß wir ihnen zu wenig zuhören – Jane verriet mir, daß sie niemals eine harzhaltige Politur verwende. Woher stammte also das Harz in jener Rille? Als nächstes, als wir im Garten waren, wurde uns vorgeführt, wie undenkbar es war, daß jemand durch die Gartentür eingetreten war – und es trat ja auch niemand ein – und wie der Eindruck, daß es anders gewesen sei, eine reine Sinnestäuschung war, eine Lösung, auf die nur jemand kommen konnte, der Künstlertum mit der Detektivarbeit verbindet. Das ist genau die Art von Beweisen, bei denen die Geschworenen schwach werden vor Bewunderung – sie zeigen, wie sie stets gern glauben wollen, die Nutzlosigkeit aller Indizien. Denn vergessen Sie eins nicht, Geschworene sind immer gegen das Gericht eingenommen. Das ist die Stärke des Systems und die Rückversicherung der Demokratie – der einfache Mann, der Zutritt bekommt, um die Experten bei ihrem Spiel zu beobachten und der die entscheidende Stimme hat, wenn die Fachleute mit ihrer Klugheit zu weit gehen, so daß reine Taschenspielerei daraus wird.
Aber ich sollte nicht vorgreifen. Wir bekamen, wie gesagt, vorgeführt, wie aus der visuellen Sinnestäuschung ein Beweis entstanden war, den es in Wirklichkeit gar nicht gab. Nur weil Jane wünschte, daß es Mord war – denn Tatmenschen finden Mord stets weitaus attraktiver als Selbstmord –, fand sie auch den Beweis. Sie wollte nicht, daß es Selbstmord war, denn einen Selbstmörder kann man nicht mehr zu fassen bekommen – er ist einem durch die Finger
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