Das Geheimnis der Haarnadel
Augen nutzen. Sie erkennen den Standort eines Gegenstandes per Echolot, indem sie unablässig Pfeiftöne aussenden und ihr Echo mit einer solchen Perfektion vermessen, daß sie mit verbundenen Augen durch ein Drahtgewirr fliegen können, ohne einen der Drähte zu berühren. Wir ermitteln Standort und Entfernung eines Objektes durch dieselbe Dreipunktmessung mittels unserer Augen – das binokulare Sehen. Ich zweifle nicht, daß wir es ebensogut mit unseren Ohren tun könnten. Aber wir sind faul. Und so kommt es, daß wir hören, aber nicht wirklich zuhören, und da wir es an der angemessenen Aufmerksamkeit mangeln lassen, werden wir das Opfer von Täuschungen.
Deshalb habe ich mir schon vor Jahren, als ich diese Lücke in unseren detektivischen Fähigkeiten erkannte, ein kleines Nachschlagewerk angelegt, in der Art der Synonym Wörterbücher – doch meines nannte ich zu Recht ein Lexikon der Symphonien.«
Da blickte selbst der willfährige Milium auf, und in seinen Zügen stand ebensoviel höfliche Entrüstung geschrieben wie in den meinen.
Mr. M. lächelte.
»Lassen Sie sich nicht täuschen, denken Sie nicht, ich hätte ein Verzeichnis der großen Werke der bekannten Komponisten angelegt! Ich gebrauche das Wort in einem präziseren Sinne als sie. Mein Katalog führt die verblüffenden Ähnlichkeiten zwischen Geräuschen auf, die von verschiedenen, grundverschiedenen Quellen ausgehen können, was zu vollkommen irrigen Deutungen führt. Sie werden kaum glauben, wie ähnlich, ja wie ununterscheidbar für das ungeschulte Ohr, mit dem die meisten Menschen sich zufrieden geben, Geräusche sind – Geräusche, die wir für ganz unterschiedlich halten, weil wir, wenn wir zu ihnen hinblicken, sehen, daß sie von Objekten ausgehen, die ganz unterschiedlich aussehen. Wissen Sie, daß manches Geschirr, wenn man es in Seifenwasser spült, einen Ton von sich gibt, der dem Knurren eines Hundes so ähnlich ist, daß die Leute aus dem Fenster sehen, weil sie meinen, der Wachhund habe angeschlagen?
Einmal hatte ich einen Fall, bei dem alles darauf ankam, ob jemand einen Gang hinuntergegangen war, um an dessen anderem Ende einen Mann umzubringen. Ein Zeuge schwor, daß jemand hinuntergegangen sei. Bei der Befragung stellte sich heraus, daß er ihn nicht gesehen, sondern nur gehört hatte. Auf weiteres Nachfragen mußte er zugeben, daß er nicht die eigentlichen Schritte, sondern nur das Knarren der Fußbodendielen gehört hatte. Als man den Teppich zurückschlug, stellte sich heraus, daß gar keine Dielen darunter waren, sondern Fliesen. Die Anklage wurde fallengelassen – zu meiner Erleichterung. Denn am Ende wurde ich hinzugezogen und konnte den Täter ermitteln, ihn vor dem Strang bewahren und dafür sorgen, daß er für den Rest seines Lebens Wiedergutmachung leistete. Denn die Zeugenaussage, von der ich sprach und um die sich alles drehte, wurde nicht des mangelnden Gehörs des Zeugen wegen verworfen, sondern wegen seiner irrigen und voreiligen Deutung dessen, was er gehört hatte. Was er immer wieder beteuerte, selbst als seine Aussage bereits verworfen war, war, daß er das Knarren gehört hatte wie von jemandem, der über die Fußbodendielen geht, und er fügte hinzu: >Ich habe gehört, wie es gleichmäßig den Gang entlangknarrte. Ich bin sicher, daß dort jemand ging.< Und er hatte recht, ob Fliesen oder keine Fliesen. Doch Fliesen knarren nicht. Was konnte also ein ähnliches Geräusch erzeugt haben? Ich zog meinen Katalog zu Rate und erwartete, daß er mich auf Stiefel verweisen würde – was mir nichts geholfen hätte. Ich stellte fest, daß das Knarren von Stiefeln Ähnlichkeit mit dem Geräusch eines Korkens hat, der langsam aus einer Glasflasche gezogen wird, und fand eine Menge weiterer Verweise, doch keinen, der in diesem Falle nützlich war. Doch als ich durchsah, was ich mir zum Knarren von Fußbodendielen notiert hatte – was meinen Sie, was ich da fand? Jenen steifen Stoff, den man Cord nennt – ein Stoff, den in der Regel niemand außer Wildhütern trägt, und das verriet mir auf Anhieb den Täter.
Und nun können wir den Beweis führen. Jane hörte – so sagt sie –, wie die Tür aufging. Was Jane tatsächlich hörte, jedoch auf der Basis ihres unbewußten Wunsches mißdeutete, war ein >Plong<. Da sie wollte, daß es sich um das Geräusch der Tür handelte, war sie sicher, daß dem so war. Sie führte Belege an, daß dies nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich war. Und wir selbst haben
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