Das Geheimnis der Haarnadel
vernachlässigen.
Als wir ans Ende unserer Teemahlzeit gelangt waren und Jane die Überreste zurück ins Haus trug, um gemeinsam mit der Köchin zu triumphieren, wie kurzen Prozeß wir mit ihrem Proviant gemacht hatten, hatten wir drei schon beinahe Freundschaft geschlossen. Milium erwies sich als ausgesprochen angenehmer Mensch und regte mich immer wieder zu neuen Gedanken über meinen Aufsatz, nun schon beinahe eine Dissertation, über »1760, der Höhepunkt unserer Kultur« an. So war ich denn wirklich bereit, meinem Verstand eine Ruhepause zu gönnen und meine ganze Aufmerksamkeit Mr. M. zu widmen, der sich zurücklehnte, den >Lungentorpedo<, den er wiederum angeboten bekommen hatte, zwischen den Fingern drehte und sich dann mit einer solchen Begeisterung seinem Bericht zuwandte, daß er auch diesmal ganz vergaß, ihn zu entzünden.
»Ich werde dort ansetzen, wo die Geschichte auch für mich begann, an jenem Morgen, der Mr. Silchester noch im Gedächtnis sein wird – so kurz erst vergangen, und doch ist so viel in dieser Zeit geschehen –, jener Morgen, an dem ich mit der Post ein kleines Päckchen bekam. Begleitet war es von dem Brief eines Freundes, den ich von der Arbeit her kannte, ein Brief, in dem er mir mitteilte, daß er von Amts wegen hierher geschickt worden sei, einen Fall aufzuklären, an dem Zweifel laut geworden seien. Er fügte hinzu, daß er sich der Sache angenommen und, als er gesehen habe, wie die Gerüchte aufgekommen seien, eine gründliche und umfassende Untersuchung angestellt habe und zu dem Schluß gekommen sei, daß es sich um ein phantasievolles Hirngespinst handle und es in Wirklichkeit keinen Grund gebe, die amtliche Feststellung der Todesursache in Zweifel zu ziehen oder die Angelegenheit noch einmal aufzurollen. Der Angelpunkt der ganzen Sache, so schloß er, sei das eine konkrete Beweisstück gewesen, das er zu seiner Freude per Post schicken könne. Wenn ich nach einer Untersuchung zur selben Schlußfolgerung komme wie er, dann solle ich es mit meiner Bestätigung zurücksenden. Sollten mir neue Einzelheiten auffallen, über die ich weitere Aufschlüsse wünschte, so möge ich bitte kommen und ihn am Ort des Geschehens aufsuchen. Er werde in jedem Falle noch einen Tag lang dort bleiben, um bei den örtlichen Behörden die Angelegenheit sachgerecht zum Abschluß zu bringen. >Jedenfalls<, so fügte er hinzu, >ist die Landschaft um diese Jahreszeit am schönsten, es ist ein wirklich ansehnliches Anwesen, und ein Vorfall wie dieser verdirbt uns alten Hasen ja nicht lange den Spaß an einem solchen Ort!<
Das ist ein Zug an Sark, der mir gefällt: Er ist ein Spezialist in herausragender Stellung, und trotzdem hat er sich von seinem Spezialistentum den Sinn für das Ganze nicht verderben lassen, sondern zieht sogar Nutzen für seine Arbeit daraus. Er ist vermögend und wird sich bald zur Ruhe setzen und sich dann, so hoffe ich, seiner großen Begabung für die Malerei widmen, die er, wie Sie, Mr. Silchester, miterlebt haben, wie alle allgemeinen Talente durchaus auch im Dienste seines Berufes einzusetzen versteht.
Ich bat Mr. Silchester, mit mir einen Blick auf das kleine Rätsel zu werfen. Er schloß sich der Meinung des Experten an.« (Das war nun wirklich eine milde Bezeichnung für meine reichlich voreiligen Schlüsse, die sich offenbar als vollkommen falsch erwiesen hatten.) Er sah in diesem Objekt nichts weiter als das, was es nach außen hin zu sein schien, ein altmodisches metallenes Zierstück, das nun – wie es der schlechte Geschmack unserer Zeit nur zu gern tut – für einen anderen Zweck benutzt wurde als den, für den es gemacht war. Mein Vergrößerungsglas gab ihm und Inspektor Sark recht. Denn der Griff dieses sogenannten Papiermessers war voller Fingerabdrücke, alle von derselben Hand, nach Sarks Auskunft der Hand Sankeys. Sie waren eindeutig, und es waren keinerlei andere zu sehen. Jemand hatte den Griff mit fester Hand umfaßt.
Doch als ich sie näher studierte, kamen mir Zweifel. Kräftig gefaßt, keine Frage, doch wie gefaßt? Die Fingerkuppe ist ein wunderbares Werkzeug zum Zufassen, denn wie die Lauffläche eines Automobilreifens ist sie fest und doch elastisch. Wenn der Wagen zu rasch um die Kurve fährt, dann sind, wie Ihnen schon aufgefallen sein wird, die Reifenspuren, die er hinterläßt, keine regelmäßigen Abdrücke des Profils, sondern sie sind verzerrt. Sie ziehen sich, wenn der Reifen sich an die Straße schmiegt, um zu verhindern, daß der
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