Das Geheimnis der Hebamme
bekam sie auf einmal das intensive Gefühl, noch aus einer anderen Richtung beobachtet zu werden. Sie bat ihren Bewacher um Erlaubnis, in einem nahe gelegenen Gebüsch die Notdurft verrichten zu dürfen. Auffallend langsam und gut sichtbar schlenderte sie dorthin und wartete.
Nach einer kurzen Weile flüsterte sie: »Kommt raus!«
Es raschelte kurz, dann steckte Bertram seinen struppigen Kopf durch die Zweige. Gleich darauf tauchte neben ihm Kunos von Sommersprossen übersätes Gesicht auf.
»Jonas und noch ein paar von uns sind gekommen, weil wiruns Sorgen um dich gemacht haben«, flüsterte er. »Wir zwei sollten erst einmal die Lage erkunden, bevor sie sich offen zeigen.«
Marthe berichtete kurz von Bertholds willkürlicher Entscheidung und ihrem Beschluss, sich um die kranken Dorfbewohner zu kümmern, bevor sie die Flucht vorbereitete.
Während Bertram entrüstet die Backen aufblies, meinte Kuno mit leuchtenden Augen: »Wir sagen den Männern Bescheid. Falls sie dich nicht freiwillig rausgeben, warte bis zum Einbruch der Dämmerung. Dann starten wir etwas zur Ablenkung. Das wird ein Spaß! Wenn alle zum Bach rennen, lauf schnell zu dem Gebüsch dort drüben. Da warten wir auf dich.«
Marthe lobte die Jungen für ihren Mut und schlenderte dann mit dem harmlosesten Gesichtsausdruck, zu dem sie in der Lage war, zurück an ihren Platz.
Wenig später erstarrten die Dorfbewohner und fingen an zu wispern, als sich Jonas und Wiprecht offen näherten.
»Wir kommen aus Christiansdorf und wollen unsere Wehmutter zurückholen, die ihr um Hilfe gebeten hattet«, rief Jonas laut. »Ich bin Jonas, der Schmied, und das ist Wiprecht, ihr Mann.«
Niemand regte sich, bis Berthold aus seinem Haus kam und sich breitbeinig aufstellte, die Hand unübersehbar am Heft seines Schwertes. Währenddessen zerrte Marthes Bewacher sie ins nächste Haus. Vorsichtig lugte sie durch die kleine Fensteröffnung und lauschte, was geschah. Der Wind trug nur einzelne Wortfetzen zu ihr herüber, aber offensichtlich lehnte Berthold das Ansinnen ab. Nach einer Weile entfernten sich die beiden Christiansdorfer.
Mit einem Knurren bedeutete ihr Bewacher, dass sie mit der Arbeit fortfahren solle. Marthe widmete sich erneut der verhärmtenFrau, die über stechende Schmerzen am linken Auge klagte.
Was würde das für ein Ablenkungsmanöver sein?, überlegte sie.
Und warum war Hildebrand nicht dabei?
Ein Schmied konnte darauf bestehen, als geachteter Mann behandelt zu werden. Und Wiprecht sollte als ihr Ehemann Ansprüche geltend machen. Aber hätte nicht der Dorfälteste zuerst sprechen müssen? Vielleicht tat sie ihm Unrecht, und er hatte im Plan der anderen eine wichtige Rolle inne. Doch für wahrscheinlicher hielt sie, dass sich Hildebrand vor der Auseinandersetzung gedrückt hatte. Er würde keinen Streit mit einem Höhergestellten riskieren – und schon gar nicht ihretwegen.
Marthe verbarg ihre Anspannung, so gut es ging und überlegte, wie sie im richtigen Moment ihrem Bewacher am besten entkommen konnte.
Als sei das nötig für eine Mixtur, zerrieb sie scharfe Minze zu feinem Pulver. Wenn sie ihm diesen Staub ins Gesicht blies, würde ihn das für einen Moment blind machen.
Plötzlich richteten sich mehrere Dorfbewohner auf und blickten misstrauisch um sich. Sie machte sich innerlich zur Flucht bereit. Wenig später schrie jemand gellend: »Rauch! Es riecht nach Rauch! Irgendwo brennt es!«
Im nächsten Moment sah sie lodernde Flammen hinter einem Holzstapel am Bach. Die Dorfbewohner rannten zur Brandstelle, wo im nächsten Moment heilloses Durcheinander herrschte.
Marthe lief los, aber schon nach dem ersten Schritt hatte Berthold sie an der Schulter gepackt. »Hiergeblieben! Ich lasse mich nicht so leicht täuschen.«
Blitzschnell warf ihm Marthe das Pulver in die Augen, das sie inihrer rechten Hand verborgen hatte. Bertholds Griff lockerte sich, als er sich hastig mit der anderen Hand übers Gesicht rieb. Dann plötzlich schrie er auf, stolperte und ließ sie los. Aus dem Augenwinkel sah Marthe, dass Kuno sich herangeschlichen und ihm einen Knüppel vor die Beine gehauen hatte.
Während Berthold sich halb blind wieder aufrappelte, rannten Marthe und Kuno, so schnell sie konnten, zu dem Versteck, wo bereits Jonas, Guntram, Wiprecht und Bertram auf sie warteten. Wenig später stießen noch Martin und ein paar der anderen Burschen dazu. Lachend und mit ihren Taten prahlend, machten sie sich auf den Heimweg.
»Wo ist Hildebrand?«,
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