Das Geheimnis der Hebamme
»Die Not, die Angst vor Wulfhart oder die Gemeinheit der Schwägerin, die den Hof führt … Du selbst bist geflohen, um dein Leben zu retten. Wilhelma tat es, um die Mädchen vor Wiprechts Bruder zu schützen. Der hat sie schon lange belauert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er über die Kleinen hergefallen wäre.« Sie spuckte aus. »Verflucht sei er!«
Marthe blickte schaudernd hinüber zu Johanna und Marie, die in Emmas Armen vor sich hin weinten, und schluckte schwer. »Aber Wiprecht … konnte er seine Töchter nicht beschützen?«
Grete schnaubte verächtlich. »Der hat ihr nicht geglaubt und wollte nichts davon hören. Karl würde alles tun, um seine Schwestern zu schützen, aber gegen seinen Onkel hätte er keine Chance gehabt.«
Marthe sah erst zu Wiprecht, der abseits stand und Gebete murmelte, dann zu Karl. Der Junge saß mit düsterem Gesicht in der Nähe und zerschnitzelte einen Stock in Späne, ohne den Eindruck zu erwecken, dass er wusste, was seine Hände taten.
Stumm wandte sich Marthe wieder ihrer Arbeit zu.
Als sie fertig waren und ein Gebet für die Tote gesprochen hatten, fasste sie sich ein Herz. »Grete, kann ich dich etwas fragen?«
Die Witwe ließ für einen winzigen Moment ein verschmitztes Lächeln aufblitzen. »Du meinst, warum ich selbst auf meine alten Tage den warmen Herd verlasse und ins Ungewisse ziehe?«
Marthe nickte.
Nun blickte die Witwe sehr ernst. »Weißt du, Mädchen, ich habe etliche Herren kennen gelernt. Wulfhart und seinen Vater und dessen Brüder, die sich gegenseitig das Erbe abgejagt haben … Keiner von denen hat etwas getaugt.«
Sie spuckte wieder aus und schickte einen deftigen Fluch hinterher. Dann holte sie tief Luft. »Bevor ich sterbe, will ich sehen, ob es doch noch so jemanden gibt wie in den alten Geschichten – einen gerechten Herrn, der sich um seine Leute sorgt, statt sie bis aufs Blut zu quälen. Ich denke, Ritter Christian könnte so einer sein.«
»Und wenn du dich irrst?«
Die Alte lachte kurz auf. »Ich habe zu viele Jahre gelebt, um mir noch etwas vormachen zu lassen. Du spürst es doch auch!«
Marthe fühlte sich einmal mehr durchschaut und schwieg betreten.
»Die Frage ist nur«, fuhr Grete ungerührt fort, »ob er so bleibt und ob unser neues Dorf entlegen genug ist, dass man ihn gewähren lässt. Macht verändert alles.«
Das Essen verlief schweigend.
Danach richtete sich Christian auf. »Ihr hattet Zeit, eure Entscheidung noch einmal zu überdenken«, rief er. »Wer sich vor dem Fluch des Alten fürchtet, der soll gehen. Es steht jedem frei, umzukehren.«
Eine Weile herrschte Stille in der Runde.
Dann erhob sich Hildebrand. »Wir werden weiter mit Euch ziehen, Herr.«
Christian nahm die Entscheidung mit unbewegtem Gesicht, doch mit innerer Erleichterung entgegen. Vielleicht konnte er mit diesen Menschen einen Traum verwirklichen, über den er noch zu niemandem gesprochen hatte. Einen Traum von einer Gemeinschaft ohne Hunger, Willkür und Gewalt.
Und vielleicht würde ihm die neue Aufgabe helfen, die bitteren Erinnerungen und den Schmerz zu überwinden, die ihnausfüllten. Solange er diese Hoffnung hatte, wollte er nicht aufgeben. Noch nicht.
Der Zweikampf
In dieser Nacht schlief Marthe nicht so schnell ein wie am Abend zuvor, als sie von der Flucht völlig erschöpft war. Die Anspannung der anderen steckte auch sie an. Wilhelmas Tod und der Fluch des Einsiedlers verstärkten das, was Marthe tags zuvor in ihrer Erschöpfung kaum wahrgenommen hatte: die Angst ihrer Gefährten vor der Nacht in einer Gegend, in der noch nie jemand von ihnen gewesen war.
Marthe hatte sich zu den Kindern gelegt und wickelte sich in die Decke, die ihr Emma gegeben hatte. Da und dort hörte sie Leute miteinander flüstern. Vorsichtig setzte sie sich noch einmal auf, rückte die Zweige unter ihrem Rücken zurecht und starrte in den dicht bewölkten Himmel, an dem nicht ein einziger Stern zu sehen war.
Lange war das Prasseln des Feuers, das auf Anweisung von Christian die ganze Nacht unterhalten werden sollte, das einzige Geräusch. Aber schon bald unterschied sie weitere: ein geheimnisvolles Knacken, Rascheln, Knistern ganz in ihrer Nähe. Ein Pferd stampfte und schnaubte.
»Leg dich wieder hin, Mädchen, du machst die anderen nur noch unruhiger. Morgen wirst du deine Kraft brauchen«, mahnte die alte Grete leise.
Marthe legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme unter dem Kopf und grübelte, was die Zukunft wohl noch
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