Das Geheimnis der Hebamme
Salzfuhrleute wirkten sichtlich erleichtert – im Gegensatz zu Christian. Friedrichs Bericht hatte eine Befürchtung verstärkt, die ihn schon lange beunruhigte. Markgraf Otto plante, sich den Feinden des Welfen anzuschließen. Wenn er in den Kampf zog, würde er sicher auch Christian auffordern mitzukommen. Dann mussten die Siedler auf lange Zeit allein zurechtkommen. Noch schlimmer war allerdings der Gedanke, dass der Krieg irgendwann selbst ihr abgelegenes Dorf heimsuchen könnte.
Ächzend und mit steifem Rücken quälte sich Friedrich vom Rastplatz hoch, um sich einen Strauch für die Notdurft zu suchen. Als er wieder ans Feuer kam, sprach ihn Marthe an, bevor er sich setzen konnte.
»Wenn Ihr erlaubt, sehe ich mir Euren Rücken an. Vielleicht kann ich Euch zu etwas mehr Beweglichkeit verhelfen«, meinte sie.
Friedrich starrte sie verblüfft an, aber Hans begann zu lachen.
»Die geht ja ganz schön ran, die Kleine«, spottete er.
»Aus dir spricht der Neid, Bruderherz«, gab der Ältere zurück.
Bertha mischte sich ein. »Sie ist heilkundig und sehr geschickt in ihrem Beruf.«
Der Fuhrmann sah Marthe zweifelnd an. »In deinem Alter?«
»Lassen wir es darauf ankommen«, meinte Marthe. Sie sah sich suchend nach einem ebenen Stück Boden um, ließ den Salzkärrner seinen Umhang ausbreiten und sich darauf legen. »Ihr müsstet den Kittel hochschieben«, sagte Marthe. »Aber Ihr könnt mir die Augen verbinden. Was ich wissen muss, kann ich mit den Händen erfühlen.«
Sie hatte Griseldis’ Anschuldigung vor dem Spielmannskarren nicht vergessen und wusste deren strengen Blick auf sich gerichtet.
Unter den Siedlern kam Getuschel auf. Aber schon brachte Hans einen Leinenstreifen, band ihn Marthe über die Augen und führte sie zu seinem Bruder, der inzwischen von mehreren Männern umgeben war, während sich die Frauen in gebührlichem Abstand versammelt hatten.
Marthe kniete nieder und verließ sich nun ganz auf das Gespür in ihren Fingerspitzen, die sie mit Johanniskrautöl eingerieben hatte. Vorsichtig fuhr sie an den Wirbeln entlang, um zu fühlen, wie die Knochen saßen und um die harten Muskeln zu lockern.
»Was hast du mit mir vor?«, fragte Friedrich unruhig.
»Nur ruhig! Wenn Ihr Glück habt, geht es Euch gleich besser.«
Mit sanftem Druck schob sie einen Wirbel zurück in die richtige Lage und ließ für eine Weile ihre warmen Hände auf der Stelle liegen.
Dann bat sie ihn, sich aufzusetzen, drehte seinen Kopf vorsichtig nach links und rechts und zog dann mit einem Ruck, dass es schauerlich knirschte.
»Willst du mich zum Krüppel machen?«, schrie der Hallenser entrüstet auf, doch sein Protest machte keinen Eindruck auf Marthe.
»Jetzt dreht den Kopf langsam nach rechts, nach links … Ja, so ist es gut. Wie fühlt Ihr Euch?«
»Ich kann mich wieder richtig bewegen!«, rief Friedrich begeistert. »Hans, du Nichtsnutz, hast du das gesehen? Beim nächsten Mal machst du das, wenn dieses Mädchen nicht zur Stelle ist!«
Marthe stand auf und lachte. »Lieber nicht! Sucht Euch einen guten Bader. Aber schaut Euch vorher an, wie er seine Kunden behandelt, damit es Euch hinterher nicht noch schlechter geht.«
Als sich die Salzfuhrleute nach zwei Tagen von den Siedlern verabschiedeten, schenkte Friedrich Marthe ein Säckchen Salz. Die gab es gleich weiter an Griseldis, froh, nun auch etwas zu den Vorräten beitragen zu können.
»Vielleicht begegnen wir uns einmal wieder«, rief Hans den Siedlern zu.
»Nicht sehr wahrscheinlich«, brummte Hildebrand.
»Wer kann das schon wissen«, gab Friedrich zurück und setzte das Vierergespann in Bewegung.
»Wir werden heute noch das Kloster der Heiligen Jungfrau Maria in Chemnitz erreichen«, kündigte Christian eines Morgens an.
Diese Mitteilung löste Freude und Erleichterung bei den Siedlern aus, denn sie bedeutete, dass sie ihrem Ziel nahe waren. Auch wenn die junge Stadt Chemnitz dem Kaiser gehörte, sozählte das Benediktinerkloster bereits zum Einflussbereich von Markgraf Otto, der wie vorher schon sein Vater Konrad Vogt des Klosters war. Hier sollte sich endlich auch der Priester zu ihnen gesellen, dessen Eintreffen Christian bereits vor dem Aufbruch in Aussicht gestellt hatte.
Vater Bartholomäus, der die Siedler im Kloster empfing und sie von nun an begleiten würde, erwies sich als ein weißhaariger, rundlicher Mönch mit Lachfältchen um die Augen. Er hatte die Priesterweihen empfangen und war bereit, das gleichförmige Leben
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