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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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das, was die Universität mir bieten konnte, selbst mit dem Kurs in Pathologie, den ich inzwischen unterrichtete. Die Arbeitsbelastung war allerdings enorm. Nur wenige der militäri schen Präparate waren gekennzeichnet, und viele waren schlam pig gelagert worden. Ich musste einiges fortwerfen und den Rest wieder neu montieren. Ein mühseliges Unterfangen, und auf Rücken und Augen wirkte es sich nicht unbedingt positiv aus. Der Vertreter der Armee war hilfreich, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Er war in Ottawa stationiert und kam zweimal im Monat nach Montreal.
    Ich hatte die Stelle auch deswegen angenommen, weil man mir einen technischen Assistenten versprochen hatte, aber bis jetzt wartete ich vergeblich. Oft musste ich an meine Anfangszeit an der McGill denken, als das Museum im Grunde nur ein chaotisches Sammelsurium aus Knochen und Gläsern gewesen war. Damals hätte ich auch fast den Mut verloren, aber Howlett hatte mich angetrieben. Jetzt gab es niemanden, der mir Beistand leistete.
    »Ach, armer Yorick.« Dieses Shakespeare-Zitat kannte ich. Blitzschnell drehte ich mich um, den Schädel noch in der Hand. Im Türrahmen stand ein Mann in einem langen, eleganten Mantel. Seine Augen hatte er zusammengekniffen. Die Wangen waren mit einem dichten schwarzen Bart bedeckt, während er die Haare kurz geschoren hatte. Aber seine Ohren verrieten ihn sofort, als er den Hut abnahm. Sie waren rot und kalt.
    Ein paar Sekunden lang brachte ich kein Wort über die Lippen. Dann sagte ich: »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihn gekannt habe, Jakob.« Ich hob den Schädel hoch und drehte ihn so, dass die leeren Augen meinen Gast anstarrten. »Aber das Grinsen legt die Vermutung nahe, dass dieser junge Mann gern Witze gemacht hat und überhaupt sehr geistreich war.«
    Jakob Hertzlich lachte. Jedenfalls nahm ich das an, obwohl es eher wie ein Ächzen klang. Der Mund meines ehemaligen Assistenten verzog sich zu einem Lächeln, das wenig überzeugend war. Ich konnte es nicht fassen, dass er tatsächlich vor mir stand. Der Erste, der zurückkehrte! Ich wollte unbedingt die neuesten Nachrichten aus Übersee hören, deshalb war mir Jakob Hertzlich mehr als willkommen, trotz seiner oft überempfindlichen und komplizierten Art. Er sah gut aus – blasser als früher, aber kräftiger. Durch den Bart schienen seine Augen größer. Überhaupt wirkte er insgesamt jugendlich. Ich war jetzt neunundvierzig, also musste er einundvierzig sein.
    Er durchquerte den Raum, legte seinen Hut auf einen Hocker, und zu meiner großen Überraschung schloss er mich in die Arme. Ich spürte seinen Körper, stabil unter dem Mantel. Meinen freien Arm schlang ich um ihn, ließ meine Hand seinen Rücken hinaufwandern, zwischen seine Schulterblätter, über die leicht gekrümmte Brustwirbelsäule. Jakob Hertzlich ist nach Hause gekommen, dachte ich, während ich ihn drückte. Er hielt still, die Augen fest geschlossen und die Hüften so dicht an meinen, dass der Schädel des unbekannten Jungen, den ich noch in der anderen Hand hielt, zwischen unseren Bäuchen fast zerdrückt wurde.
    »Lassen Sie sich ansehen!«, rief ich, eine Ausrede dafür, mich aus seiner Umarmung zu befreien. Aber ich bedauerte sofort, dass ich das gesagt hatte. Er würde mich natürlich ebenfalls anschauen, und ich wollte lieber nicht daran denken, was er da sah. Meine Haare waren inzwischen ziemlich grau, ich hatte, wie gesagt, vor einem Monat meinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert, aber im Gegensatz zu Jakob hatte ich abgenommen. Weil ich keine Freunde und Studenten zum Tee einlud und niemand mehr Kuchen mit ins Museum brachte, um ihn nachmittags in der Pause mit mir zu verspeisen, hatte das Essen für mich fast jeden Reiz verloren. Ich kochte selten eine Mahlzeit, sondern nahm lieber in meiner Küche eilig ein Sandwich zu mir, mit einem Stück Käse oder Wurst, jedenfalls ohne großen Aufwand. Garantiert sehe ich aus wie meine eigene Großmutter, dachte ich beunruhigt. Meine Haut war blass, weil ich den ganzen Winter in diesem Raum gearbeitet hatte. Zum Glück trug ich einen Laborkittel. Das Kleid, das ich am Morgen angezogen hatte, hing nämlich an mir wie ein Sack.
    »Sie sehen gut aus«, sagte Jakob, nachdem er mich ausführlich gemustert hatte. »Ein bisschen dünner, aber das steht Ihnen.« Erstaunlicherweise entdeckte ich keine Spur von Ironie in seiner Stimme. Sein Gesicht leuchtete, wie bei einem Kind, das sich freut. Und er sprach ohne jeden fremden Akzent –

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