Das Geheimnis der Herzen
Möglichkeit, den Krieg vor mir zu sehen, ihn mitzuerleben und zu verstehen. Ohne seine Begabung, das Geschehen so klar zu schildern, wäre das nicht möglich gewesen. Diese Chance hatten nicht alle Frauen. Andererseits wollten auch nicht alle Frauen sie haben, dachte ich, während ich Mrs Greaves nachschaute.
Ich las weiter.
Howlett war mit dem Zug nach London gekommen, um ihn zu besuchen. Der alte Mann hatte versucht, eine fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten, aber er hatte furchtbar ausgesehen. Klapperdünn , schrieb Dugald, seine Haut fahl und grau . Den ganzen Winter über war Howlett krank gewesen. Bronchitis. Dugald hatte es geschafft, ihm etwas Gutes zu tun: Er hatte Revere ein paar Wochen vorher gesehen und konnte berichten, dass es ihm gut ging. Was für ein robuster junger Mann er geworden ist! Vom Wetter gegerbt wie ein Indianer, weil er im Winter und Frühling ständig draußen im Freien war. Er trägt jetzt einen Schnurrbart, genau wie sein Vater, nur weniger herabhängend. Howlett weinte, als ich ihm seinen Sohn beschrieb .
Die letzten Zeilen des Briefes waren wieder viel düsterer. Jeder von uns ist getroffen worden, Agnes, schrieb er in seiner seltsam spitzen neuen Schrift. Gleichgültig, ob auf dem Schlachtfeld oder in England und in Sicherheit – wir sind alle Opfer . Der arme Howlett ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich glaube kaum, dass Revere unversehrt zurückkommt, und ich weiß nicht, ob der alte Mann das überleben wird.
Niemand kann mich zwingen, den Kanal wieder zu überqueren, es sei denn, ich entscheide mich dafür. Ich kann aussteigen, dank meiner Lunge. Aber was bleibt noch, Agnes? Frankreich und Flandern lasten schwer auf mir. Ich fühle mich wie Coleridges alter Seemann mit dem Albatros auf den Schultern und ersticke an dem Grauen .
Bei der letzten Zeile angekommen, hatte ich aufgehört, ein Mann sein zu wollen. Das, mehr als alles andere, war für mich das Ergebnis dieses Krieges. Von diesem Tag an bis zu meinem Tod, nahm ich mir vor, würde ich jeden Morgen ein Dankgebet dafür sprechen, dass ich das Glück gehabt hatte, als Frau geboren zu werden.
24
April 1918
D er Totenkopf schien zu grinsen im harten Sonnenlicht des Aprils. Ich saß an meinem Schreibtisch und versuchte, mir ihn als menschliches Gesicht vorzustellen, Lippen, die die schiefen Zähne verdeckten, Augen in den Höhlen. Die Knochenstruktur war zart, ich hatte Angst, etwas zu zerbrechen. Wie mochte dieser Junge ausgesehen haben? Vielleicht hübsch und auf jeden Fall klein – noch nicht ganz der Kindheit entwachsen. Dies war nicht der einzige Schädel im Canadian Army Medical Museum, das ich nun offiziell verwaltete, aber es war einer der ergreifendsten. Nach den Löchern im Knochen zu urteilen, war der Tod sofort eingetreten. Eine Kugel war an der linken Schläfe in den Schädel eingetreten, durch beide Gehirnhälften gegangen und dann rechts sauber wieder ausgetreten. Ich strich über den glatten Schädel, mein Blick verschwamm.
Das Alter machte mich weich. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte ich mich gegen jede Sentimentalität gesperrt, und nun vergoss ich Tränen beim Anblick meiner eigenen Exponate. Ein Mensch hätte ein Herz aus Stein haben müssen, um sich von meiner neuen Sammlung nicht rühren zu lassen, vor allem von diesem jugendlichen Schädel. Es hätte Revere Howlett sein können. Außer dass er, soweit ich wusste, noch kämpfte. Es hätte der Sohn von Mrs Greaves sein können, der im vergangenen Sommer gestorben war, nachdem ihn Granatsplitter im Bauch und am Kopf erwischt hatten. Alexander Greaves war neunzehn Jahre alt gewesen, als sein Leben endete. Aber gleichgültig, wessen Schädel es war, dachte ich, während ich die Konturen und die Struktur des Knochens abtastete – es war ein junger Mann gewesen. Die letzten Tage seines Lebens hatte er im Schützengraben verbracht: frierend, nass, allein.
Die Aprilsonne, die den ganzen Nachmittag ins Museum schien, versteckte sich plötzlich hinter den Wolken. Ich stand auf und strich meinen zerknitterten Kittel zurecht. Der Totenkopf würde in das für Schädel reservierte Regal kommen – und ich musste weitermachen mit meinem Tagewerk. Ich war erschöpft. Wie üblich hatte ich viel zu viel zu tun. Im Dezember hatte man mir angetragen, die medizinische Sammlung der Armee zu katalogisieren und auszustellen. Ich hatte den Auftrag angenommen. Es war gut für mein Ansehen und für das der McGill, und außerdem zahlte die Regierung mehr als
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