Das Geheimnis der Herzen
sich gekauft hatte.
Jakob lachte. Es war ein echtes Lachen diesmal, ganz anders als bei seinem ersten Anlauf. »Ja, uns ging es wahrlich nicht schlecht«, sagte er. »Revere hat immer mit mir Fahrradtouren unternommen. Ich hatte mit so etwas keinerlei Erfahrung, müssen Sie wissen. Als Kind habe ich nicht mal Radfahren gelernt. Wir sind durch die ländliche Gegend geradelt. Er war ein großartiger junger Mann. Besser als sein Vater«, fügte er hinzu, unnötigerweise. »Der alte Herr hat uns übrigens in Dannes-Camiers besucht. Hat Rivers das auch geschrieben?«
Ich nickte. Es war im September 1915 gewesen, als Zivilisten noch die Möglichkeit hatten, den Kanal zu überqueren.
»Er ist aufgetreten wie ein König, was mir persönlich nicht gefallen hat, aber alle anderen schienen sehr angetan von ihm«, sagte Jakob. »Jeden Morgen hat er seine Runde gemacht, und die ganze McGill-Gruppe ist hinter ihm hergelaufen. Die Leute haben jedes Wort von ihm aufgesogen. Rivers hat die Meute angeführt, wie Sie sich sicher vorstellen können. Rivers hat keine Ahnung, wie er sich erniedrigt. Was Howlett selbst allerdings gar nicht merkt – solange er nur seine tägliche Dosis an Verehrung bekommt.«
Ich schwieg lieber, weil ich Jakobs explosive Launen kannte und weil ich gern noch mehr erfahren wollte. Da sich Ja kob mit Revere angefreundet hatte, war er offenbar einge laden worden, Vater und Sohn bei einem Ausflug zur Front zu begleiten. Zuerst hatte er abgelehnt. Er fand die Unternehmung zu riskant. Die Städte in Frontnähe lagen unter Beschuss. Warum sich mitten im Krieg bewusst noch zusätzlichen Gefahren aussetzen? Sir William erklärte, dass die Sicherheit selbstverständlich an erster Stelle stehe, und organisierte einen Wagen, der dem Roten Kreuz gehörte und den die Deutschen nicht angreifen würden. Und sie wollten nur über Nebenstraßen fahren.
Also begleitete Jakob ihn. Es war Erntezeit. Als sie nach Belgien kamen, waren dort viele Bauern auf den Feldern, arbeiteten zwischen den Schützengräben. Die Landschaft war voller Grabkreuze – endlose Reihen auf den Dorffriedhöfen, die Zeugnis waren, wie viele junge Männer gefallen waren. Am Abend fuhren sie zurück nach Frankreich, um dort zu übernachten, was Jakob nicht verstand, weil es ein Umweg war. Aber Sir William hatte seine Gründe. In dem Gasthaus, in dem sie in Montreuil abstiegen, hatte Laurence Sterne die erste Nacht seiner Empfindsamen Reise verbracht. Und als es am nächsten Tag weiterging, begriff Jakob, dass dies Howletts eigene »empfindsame Reise« war. Sie fuhren nach Calais.
»Und hier, Dr. White«, sagte Jakob, »nahm die Expedition eine ganz spezielle Wendung, die nicht nur William Howlett betraf, sondern auch Sie.«
Wie sich herausstellte, kannte Sir William jemanden, der in Calais lebte, einen Mann, mit dem er vor vielen Jahren während seines Studiums Freundschaft geschlossen hatte. Die Gruppe begab sich zu einem Gasthaus nicht weit von den Befestigungsmauern der Stadt, um den Mann dort zu treffen. »Die Welt ist klein, Dr. White«, sagte Jakob. »Ahnen Sie schon, wer dieser Mann war?« Er schwieg, aber ich erriet es nicht. »Honoré Bourret.«
Mein Vater lebte in Calais. Und diese Nachricht, auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte, überbrachte mir ausgerechnet Jakob Hertzlich.
»Ich habe von Ihnen erzählt«, sagte Jakob. »Ich erzählte ihm von dem Herzen, das Sie gefunden haben, und auch von Ihrem Artikel – in dem Sie schreiben, dass er das Herz entdeckt hat.«
Als der anfängliche Schock nachgelassen hatte, merkte ich, dass irgendetwas an Jakobs Bericht seltsam war. Sir William wusste, wo mein Vater war. Er hatte im Herbst 1915 mit Honoré Bourret in Calais am Tisch gesessen und mir kein Wort davon gesagt. Dafür musste es eine Erklärung geben. »Sind Sie sicher, dass es der Honoré Bourret war?«
Jakob lächelte unangenehm. »Wie viele Honoré Bourrets kann es geben? Die Ärzte sind und früher in Montreal gelehrt haben?«
Ich holte tief Luft, weil ich mich nicht verraten wollte. »Hat er selbst bestätigt, dass er es ist, Jakob? Konnte er sich an das Herz erinnern?«
Jakob überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Es war eine bizarre Begegnung. Der Frage nach dem Herzen ist er ausgewichen. Er sagte auch nie direkt, wer er ist. Damals habe ich das für ein Zeichen von Bescheidenheit gehalten, vielleicht auch für ein Zeichen von Verlegenheit, weil ich ja von Ihnen wusste, dass irgendein Skandal seine Karriere
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