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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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ich durch die verlassenen, vereisten Straßen von Montreal. Es war nicht so, dass ich den Menschen magische Pillen oder eine wirkungsvolle Behandlung anbieten konnte. Den Müttern, Schwestern und Tanten, die ihre kranken Angehörigen pflegten, erklärte ich die Grundbegriffe der Hygiene und dass sie sich immer die Hände waschen mussten, und ich verteilte Gesichtsmasken. Ich riet allen, Lebertran zu nehmen, Menschenansammlungen zu meiden, ihre Wohnung sauber zu halten und drinnen zu bleiben. Ich hielt ihnen die Hand. Ich tröstete sie. Es gab keine Methode, die Spanische Grippe zu umgehen, und ein wirksames Heilmittel gab es auch nicht.
    Als ich nach St. Andrews East aufbrach, war Montreal eine Geisterstadt. Die ersten Grippefälle waren Ende September registriert worden, im Oktober hatte sich die Krankheit schon überall ausgebreitet. Die Schulen wurden geschlossen, dann die Theater und schließlich auch die Kirchen. Die Geschäfte blieben noch eine Weile lang offen, aber die Leute hamsterten, und bald waren die Regale leer. Alle Haushalte mit einem Grippeopfer waren, unter Androhung einer Geldstrafe, dazu verpflichtet, eine Warnung an der Tür anzubringen. Innerhalb von Tagen hing an jedem Haus ein Zettel.
    Auf der anderen Seite des Atlantiks tötete die Spanische Grippe die Soldaten noch schneller, als deutsche Kanonen und deutsches Giftgas es schafften. Dugald Rivers war in London der Krankheit erlegen. Ich erhielt ein Telegramm von Dr. Mastro, der sich in Übersee aufhielt und bei der Beerdigung gewesen war. Sofort kabelte ich zurück, aber zu viel mehr war ich nicht fähig. Ich weinte auch nicht. Dafür war gar keine Zeit. Wochenlang blieb Dugalds Tod für mich völlig abstrakt. Drei Jahre lang hatte ich mit ihm korrespondiert. Das Gesicht, das ich in Erinnerung hatte, gehörte einem Mann, der viel jünger und ahnungsloser war als Dugald zum Zeitpunkt seines Todes. Es war ein Gesicht, das vermutlich wenig Ähnlichkeit hatte mit seinem Äußeren, als er starb.
    Dr. Clarke war ebenfalls erkrankt. Er hatte die Front überlebt und war unversehrt nach Hause gekommen. Doch dann hatte ihn sofort eine Lungenentzündung ereilt. Seine Frau rief in der McGill an und erbat meinen Beistand, aber zu dem Zeitpunkt war ich schon auf dem Weg nach St. Andrews East, um Laure zu pflegen. Am Tag vorher hatte ich ein Telegramm von Jakob Hertzlich erhalten, in dem stand, dass Clarke keine Woche mehr zu leben habe, und wenn ich ihm die letzte Ehre erweisen wolle, müsse ich sofort kommen. Clarkes Frau musste sich an ihn gewandt haben, als sie mich nicht erreichen konnte. Ich telegrafierte zurück, dass ich leider nicht kommen könne, weil meine eigene Schwester im Sterben liege.
    Als würde sie spüren, dass sich meine Gedanken wieder ihr zuwandten, schlug Laure die Augen auf. Selbst in dem verblassenden Licht waren sie so blau wie die meiner Großmutter, wie die Vergissmeinnicht, die Laure und ich als Kinder am Ufer des North River gepflückt hatten. Ich flüsterte ihren Namen. Sie schaute mich an, dann öffnete sie die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Ich tunkte einen Lappen in die Wasserschüssel, um ihr die Lippen zu befeuchten, dann half ich ihr, sich aufzurichten, und drückte ihr noch ein paar Tropfen in den Mund. Sie reagierte so gut, dass ich ihr sogar ein Glas anbieten konnte, das ich hielt, während sie trank.
    Mit jedem Schluck verbesserte sich meine Stimmung. Es war wie ein Wunder, eine Belohnung für all die Tage, die ich an ihrem Bett verbracht hatte, ständig gegen die wachsende Verzweiflung ankämpfend. Laure konnte nicht sprechen, dafür war ihre Lunge zu matt, aber sie war wach und erstaunlich präsent. Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich musste ihr mein Herz offenbaren.
    Vor vielen Jahren schon hatte ich die Rolle von Laures Beschützerin übernommen. Ich war verantwortlich für die meisten Dinge in ihrem Leben. Wegen ihres psychischen Zustands und weil sie von Natur aus eher fügsam war, hatte ich bald aufgehört, sie wegen irgendetwas um Rat zu fragen. Laure war längst nicht mehr imstande, etwas zu planen oder irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Deshalb fühlte ich mich berechtigt, selbstständig zu verfahren. Ich besprach alles, was Laure brauchte und betraf, mit George Skerry, oder ich entschied allein und tat das, was meiner Meinung nach für sie richtig war. Doch seit ein paar Wochen wusste ich etwas, das sowohl für mich als auch für meine Schwester von zentraler Bedeutung war.

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