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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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in Montreal beendet hat. Howlett muss dieses Unbehagen gespürt haben. Er lenkte das Gespräch vom Thema Herz fort. Dabei war Bourret doch sein Mentor. Man hätte annehmen sollen, dass sie gern über frühere Heldentaten sprachen, aber dem war überhaupt nicht so. Zum ersten Mal habe ich Howlett ratlos erlebt. Er war irgendwie in Panik, wenn Sie mich fragen.«
    Jakobs Abwehrhaltung war einer generellen Neugier gewichen, aber ich hatte nicht die Kraft, mich mit ihm auseinanderzusetzen. In meiner Vorstellung segelte ich bereits über den Atlantik, um meinen Vater zu suchen. Zuerst würde ich nach England fahren und von Sir William eine Erklärung fordern. Danach würde ich den Kanal überqueren. »Ich muss ihn sehen«, murmelte ich, ohne Jakob zu beachten.
    »Sie meinen Bourret?«, fragte er und versuchte, meinem Blick zu begegnen.
    »Nein, nicht Bourret.« Mein Tonfall war ungeduldig. Es war eine so endlose Geschichte, dass ich gar nicht wusste, wo anfangen.
    »Howlett?«
    Ich nickte. Sir William – dieser Mann, dem ich vertraut hatte wie einem Vater.
    Jakob Hertzlichs Augen verloren jeden Ausdruck. Er erhob sich, ohne ein Wort zu sagen, und ehe ich ihn aufhalten konnte, war er zur Tür hinaus.

25
    November 1918
    D ie Kälte kam über Nacht nach St. Andrews East, begleitet vom ersten Pulverschnee. Ich saß im Schaukelstuhl meiner Schwester in der Priory und schaute zu, wie sich das rosarote Licht der Abenddämmerung am Horizont sammelte, hinter den kahlen Feldern. Den ganzen Herbst hindurch hatte ich es geschafft, die Augen vor den Vorboten des Winters zu verschließen. Aber jetzt wurde ich plötzlich wachgerüttelt. Die Luft draußen war kalt, meine Lunge krampfte sich zusammen, wenn ich einatmete. Ich hatte ganz vergessen, wie das war – der ungebremste Schock und das instinktive Schrumpfen des Körpers. Auch das Haus zog sich zusammen. Die Holzbalken knackten, die Rohre klopften vor Empörung.
    Meine Schwester lag im Bett. Sie hatte ihre Decke weggeschoben, obwohl es ziemlich kalt war in ihrem Zimmer. Ich hatte zwei Paar Socken angezogen und mich in eine Daunendecke gewickelt, aber Laure schwitzte. Die ganze Woche schon hatte sie Fieber, und während der letzten beiden Tage hatte sie entweder deliriert, oder sie war gar nicht bei Bewusstsein gewesen. Ihre Lippen waren aufgeplatzt von der Dehydration. Und wenn sie die Augen aufschlug, war ihr Blick beängstigend glasig.
    Sie lebt noch , sagte ich mir. Bei anderen war es so rasch gegangen, dass sie nicht einmal mehr die Möglichkeit gehabt hatten, einen Arzt zu rufen. Diese Krankheit schritt mit erschreckender Schnelligkeit voran. Nach ein paar Stunden Unwohlsein verloren viele Patienten die Fähigkeit zu gehen. Ihr Gesicht lief blau an. Sie bluteten aus Nase und Ohren und husteten Blut, als hätten sie die Schwindsucht. All das war Laure erspart geblieben. Bei ihr war der Krankheitsprozess relativ langsam verlaufen, und diese Tatsache machte mir Hoffnung. Die Grippe selbst hatte sie überstanden, jetzt litt sie an einer sekundären bakteriellen Lungenentzündung.
    Die Leute sprachen von der »Spanischen Grippe«. Diese Grippe war anders als alle, die ich bisher erlebt hatte. Die Symptome erinnerten mich eher an Cholera oder Typhus, und die Sterberate lag sicher zehn oder zwanzig Prozent höher als bei üblichen Grippeinfektionen. Rätselhafterweise schien sie die Alten und die ganz Jungen zu verschonen. Am aggressivsten waren die Attacken bei Menschen in den besten Jahren des Lebens.
    Die Standuhr im Flur schlug fünf Mal. In einer Stunde würde George Skerry mich ablösen. Wir hatten die Wache in Sechs-Stunden-Schichten aufgeteilt. Im Moment bereitete George unten das Abendessen zu. Ich roch, dass sie Zwiebeln röstete. Meine alte Gouvernante glaubte an die Heilkraft des Essens. Sie kochte immer sehr aromatische Suppen für mich, die mich gesund halten sollten. Obwohl sie selbst schon die ganze Zeit mit Laure eingesperrt war, hatte die Krankheit sie noch nicht erwischt, was möglicherweise für ihre Gesundheitsstrategie sprach.
    Überraschender war allerdings, dass ich selbst auch immer noch gesund war. Genau vor einem Monat hatte der Bürgermeister von Montreal den Notstand ausgerufen. Jede wache Minute, wozu auch ein großer Teil der Nacht gehörte, hatte ich damit verbracht, mich um Kranke zu kümmern. Dreißig Tage lang. Weil die meisten Patienten daheim unter Quarantäne gestellt waren, machte ich unzählige Hausbesuche. Mit meiner schwarzen Tasche tappte

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