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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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genau wie Revere Howlett, dessen hübsches, bleiches Gesicht ich nicht vergessen würde. Huntley Stewart war unversehrt zurückgekehrt, aber Samuel Clarke lag im Sterben. Ich wollte jetzt gleich zu ihm, um mich zu verabschieden. Wie konnte ich fremde Menschen auf der Straße umarmen und Fahnen schwenken, mitten in all diesen schrecklichen Verlusten?
    Dr. Clarkes Haus stand direkt unterhalb der waldigen Höhen von Mount Royal Park. Jakob Hertzlich nahm mich an der Tür in Empfang. Weil ich so erhitzt war vom schnellen Laufen, hatte ich meinen Mantel aufgeknöpft. Jakob saß auf der Treppe und rauchte. Offenbar wartete er schon eine ganze Weile, denn er wirkte halb erfroren. Seine Finger waren wieder gelb, er hatte abgenommen und wirkte erschöpft.
    »Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, sagte er und schnippte die Asche übers Geländer in ein Beet, das von Eis zerklüftet war. »Der Leichnam liegt oben, wenn Sie ihn sehen wollen.«
    Es war passiert, während ich im Zug saß. Als die Schaffner mit der Nachricht vom Waffenstillstand durch die Waggons gingen, war Samuel Clarke gestorben. Er habe nicht gelitten, berichtete Jakob. Unser alter Freund war ins Koma gefallen und einfach nicht mehr aufgewacht.
    Ich wollte die Arme ausstrecken, wollte den Schutz von Jakobs Körper spüren, aber ich konnte mich nicht bewegen. Reglos stand ich da und atmete die kühle Luft ein.
    »Sie sehen gut aus«, sagte Jakob.
    Meine Wangen waren wahrscheinlich von dem Anstieg gerötet. Ich stieß einen Schluchzer aus. »Ich glaube, viel schlechter könnte es mir gar nicht gehen.«
    »Dann sind wir schon zu zweit.« Jakob wandte den Blick ab und erkundigte sich nach Laure.
    Es war das erste Mal, dass ich es laut aussprach: Meine Schwester ist tot . Trauer stieg in mir hoch. Als ich weitersprechen konnte, fragte ich nun meinerseits nach Jakobs krankem Vater.
    Er zuckte die Achseln. »Tot«, antwortete er. »Wie alle anderen auch. Allerdings ist er an Krebs gestorben, nicht an der Grippe.« Er starrte in die Dämmerung, und eine Sekunde lang hatte ich Angst, auch er könnte wieder in Tränen ausbrechen. Er beugte das Knie und stützte den Fuß an die Wand. Von weit unter uns, von der Sherbrooke Street, tönte das Gehupe der Autos, zur Feier des Tages – und so fehl am Platz.
    Mrs Clarke war oben im Schlafzimmer ihres Mannes. Stumm saß sie bei der Leiche. Eine rundliche Frau, genauso herzlich und warm wie ihr Mann, aber mit einem tieferen Respekt vor den christlichen Riten. Sie stand auf, umarmte mich und nahm meine beiden Hände. Als ich ihr sagte, wie traurig ich sei, dass ich nicht für Dr. Clarke hatte da sein können, beruhigte sie mich, erkundigte sich nach Laure und dankte mir, dass ich trotzdem gekommen sei. Jakob Hertzlich bezeichnete sie als ihren »Schutzengel«. Er sei der Inbegriff christlicher Nächstenliebe. Die ganze letzte Woche habe er bei ihr verbracht und sich unermüdlich um ihren sterbenden Mann gekümmert. Jakob war mir ins Zimmer gefolgt, und während Mrs Clarke ihn so lobte, nahm sie auch ihn an der Hand, holte ihn zu uns in den Kreis. »Er ist etwas ganz Besonderes«, sagte sie mit ihrer freundlichen, melodischen Stimme. »Für meinen Mann war er wie ein Sohn.«
    Jakob lächelte nicht. Mit gequälter Miene löste er sich aus Mrs Clarkes Griff, so schnell er konnte. Die Gelassenheit, die er aus Übersee mitgebracht hatte, schien verschwunden zu sein. Mrs Clarke und ich schauten ihm nach, als er verlegen aus dem Zimmer eilte und die Tür hinter sich schloss.
    »Er ist ein guter Mann«, sagte die Witwe. »Viel einfühlsamer, als er zugeben will.« Traurig schüttelte sie den Kopf, dann schaute sie mich an. »Bitte, treten Sie doch näher zu dem Toten, Dr. White. Sie müssen nicht schüchtern sein. Sie haben auch zu den Lieblingen meines Mannes gehört.«
    Samuel Clarke war in ein frisches Nachthemd eingekleidet. Er wirkte zerbrechlicher als bei unserer letzten Begegnung, das Haar war so schütter, dass die blasse Kopfhaut unter den weißen Strähnen durchschimmerte. Sein Gesichtsausdruck ließ mich innehalten. Er sah glücklich aus. Vielleicht war es ja nur die Entspannung der Muskulatur oder der Lichteinfall, aber was ich sah, war fast ein Ausdruck der Freude. Ganz anders, als ich erwartet hatte, empfand ich es als Erleichterung, im Zimmer des Toten zu sein. Die Welt wirkte plötzlich weniger düster.
    Jakob Hertzlich stand draußen auf der vorderen Veranda und wartete auf mich, als ich nach unten kam. Das Licht war

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