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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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Gleichgültig, was es bringen würde – es wäre nicht richtig gewesen, ihr nichts davon zu sagen.
    »Ich weiß, wo Vater ist«, sagte ich, an ihrem Bett kniend.
    Laures Gesicht zeigte keine Regung. Die blauen Augen starrten teilnahmslos in meine.
    »Er ist in Frankreich.«
    Sie blinzelte kurz, dann wandte sie den Blick ab.
    Als Jakob Hertzlich mir die Nachricht überbrachte, hatte die Erde aufgehört, sich um ihre Achse zu drehen. Mich hatte eine solche Euphorie, eine solche Hoffnung ergriffen, dass ich mich kaum beherrschen konnte.
    »Ich werde zu ihm gehen.«
    Ein Hustenanfall schüttelte meine Schwester, und sie entglitt mir. Ich versuchte, sie wieder aufzusetzen, aber sie ließ sich jedes Mal zurücksacken, wie ein übermüdetes Kind. Zwar war sie bei Bewusstsein, doch ihre Augen wollten sich nicht mehr öffnen.
    »Laure«, flüsterte ich und nahm sie in die Arme. Sie war federleicht, ihre Knochen hatten kein Gewicht. Die Knochen eines kleinen Vogels. Laure lebte noch drei Tage, hielt aber die ganze Zeit die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr.

26
    7. November 1918
    D ie Nachricht kam, als ich im Zug saß, an einer Haltestelle zwischen St. Andrews East und Montreal. Seit Wochen rechnete man schon damit, aber zu Kriegszeiten gab es immer dermaßen viele Gerüchte, dass ich nicht richtig zu gehört hatte. Der Krieg war vorbei. Als unser Zug nach Mont real einfuhr, hatten die Alliierten und die Deutschen die Waffen niedergelegt. In den Waggons fielen die Passagiere einander jubelnd um den Hals. Es war ein richtiges Freudenfest. So viele gute Nachrichten innerhalb von so kurzer Zeit! Erst das Ende der Grippe-Epidemie, und nun, zwei Tage später, das Ende des Krieges.
    Windsor Station war voll mit Menschen. Ich war eingezwängt zwischen einem alten Mann vor mir, der einen riesigen Handkoffer bei sich trug, und einer hektischen Frau, die mir von hinten ständig in die Hacken trat. Nach der Ruhe in der Priory fand ich dieses Gewühle unerträglich. Meine Füße waren schwer und langsam. Laure lebte nicht mehr. Am Nachmittag zuvor hatten wir sie auf dem presbyterianischen Friedhof begraben, neben unserer Mutter und unserer Großmutter. Der Schnee war geschmolzen, aber der Boden war so hart gewesen, dass die Spitzhacke des Totengräbers zerbrach. Außer dem Pfarrer waren nur zwei Personen anwesend: George Skerry und ich.
    Die Menschenmenge im Bahnhof drängte vorwärts und riss mich mit. Ich ließ mich von ihr durch die Haupthalle des Bahnhofs tragen, begleitet vom Echo der allgemeinen Aufregung und der körperlosen Stimme, die Gleisnummern und Abfahrtszeiten durchgab.
    Die kalte Luft draußen vor dem Bahnhof war eine Wohl tat, auch wenn sich hier die Leute drängten und durchei nanderschrien. Allem Anschein nach war die ganze Stadt auf den Beinen, obwohl ein scharfer Nordwind wehte. Ich zog mir schützend den Schal vor den Mund. In der Peel Street war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Niemand schien sich darüber aufzuregen. Die Fahrer strahlten und hupten laut. Manche wedelten mit Fahnen, mit der Red Ensign und der Royal Union Flag. Auf den Gehwegen standen die Leute und schauten zu, wie bei einer Parade.
    Der siebte November 1918. Der Krieg war endlich vorbei. Vielleicht würde dieser Tag später zum Feiertag erhoben werden, genannt War’s End Day oder etwas ähnlich Hoffnungsvolles – und Falsches. Denn es würde neue Kriege geben. Gewalt gehörte zur Natur des Menschen, genau wie die Liebe und die Güte.
    Vor mir sah ich, wie sich eine Frau in einem leuchtend blauen Pullover aus einem Wagenfenster beugte, um einen Mann am Straßenrand zu umarmen. Er küsste ihr die Hände, dann fuhr das Auto ruckelnd weiter. Und schon küsste der Mann die nächste Frau. Die Peel Street war so verstopft, dass die Autos und Pferdewagen fast nicht vorankamen. Die Fußgänger schlängelten sich zwischen ihnen hindurch. Ein Mann wollte mich an der Hand fassen, aber ich wich zurück. Jemand kam von hinten und drückte mich, aber ich duckte mich schnell nach rechts weg und floh. Für mich gab es keinen Grund zu feiern.
    Laures Tod war nur die letzte von unzähligen Tragödien. Vor Laure war Dugald gestorben. Und dann die Kriegstoten, junge Männer, deren Namen Tag für Tag in der Gazette veröffentlicht wurden. Endlose Listen. Ein Dutzend meiner Studenten waren in Frankreich und Flandern begraben. Der Sohn von Mrs Greaves, den ich zwar nie kennengelernt hatte, durch die Geschichten seiner Mutter aber gut kannte, war tot,

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