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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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geschlossen.
    Ich schüttelte den Kopf. Ich sei nicht auf der Suche nach ärztlicher Hilfe, sagte ich. Es war kalt an der Tür. Die Frau schlang den Fuß um das Bein, auf dem sie stand, und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust.
    »Ich muss den Doktor sprechen«, wiederholte ich. »Meine Gründe sind privater Natur.«
    Diese letzte Bemerkung irritierte sie. Sie hatte ein eckiges Kinn, das sie jetzt verärgert vorschob, obwohl ich wirklich nicht wie eine Bedrohung aussehen konnte. Ich nahm an, dass sie die Gefährtin meines Vaters war – la femme qui n’était pas sa femme . Ihre Körperhaltung betonte überdeutlich, dass sie nicht seine Köchin oder Haushälterin war.
    Um ihre Bedenken zu zerstreuen, fügte ich hinzu, ich sei eine Kollegin. »Wir kennen uns von früher.«
    Weil wir beide völlig ausgekühlt waren, ließ sie mich drinnen warten, während sie den Flur hinunterging, um mich bei Dr. Bourret anzumelden. »Ich verspreche Ihnen nichts«, rief sie mir noch über die Schulter zu. »Er empfängt selten Besucher.«
    Das Haus war dunkel und kleiner, als es von außen wirkte. Schmale Fenster, die besser zu einer Festung gepasst hätten als zu einem Wohnhaus. Die Wände waren weiß gestrichen, was die Atmosphäre ein wenig aufhellte, und die Gaslampen brannten, aber insgesamt war es eine bedrückende Umgebung.
    Nach einer Weile kam die Frau mit den kupferroten Haaren zurück und führte mich in den rückwärtigen Teil des Hauses. Bei geschlossener Haustür war der Salzgeruch des Meeres ausgesperrt, und ein anderes Aroma wurde stärker wahrnehmbar. Meine Gastgeberin roch eindeutig nach Alkohol. Schweigend gingen wir auf das Arbeitszimmer zu. Mein Vater saß dort auf einer Couch, die Beine hochgelegt und in eine Decke gewickelt. Er stand nicht auf, als ich eintrat, sondern wandte sich mir nur zu und blinzelte. Sein Anblick versetzte mir einen regelrechten Schock, denn das Gesicht, das ich vor mir sah, ähnelte in nichts dem Antlitz, das ich schon so viele Jahre in mir trug. Die Oberlippe war glatt rasiert. Seine Haare waren schlohweiß und noch dicht. Er trug eine Brille mit extrem dicken Gläsern, die seine Augen mit den milchigen Pupillen stark vergrößerten, wodurch er wütend und verwundert zugleich aussah.
    Ich blieb in der Tür stehen, bis er mich bat, näher zu treten. »Entschuldigen Sie, dass ich nicht aufstehe«, sagte er in einem Französisch, das eindeutig nicht aus der Gegend hier stammte. »Bei diesem nassen Wetter tun mir die Gelenke weh.« Er winkte mich zu sich. »Kommen Sie«, sagte er, »kommen Sie ins Licht, damit ich Sie sehen kann.«
    Die Bitte überraschte mich, denn ich stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Die Frau mit den roten Haaren schubste mich an. »Na los«, flüsterte sie. »Er sieht sehr schlecht. Sie müssen ganz nahe zu ihm hingehen.«
    »Ich kann dich hören«, sagte der alte Mann. »Meine Augen mögen schwach sein, aber meine Ohren funktionieren noch ausgezeichnet.« Er nahm die Brille ab. »Ich kann nicht einmal mehr die Zeitung lesen«, sagte er, faltete ein altes Exemplar von Le Monde zusammen und steckte es zwischen sich und ein Kissen. »Solange muss mir die Nachrichten vorlesen.« Er wiederholte seine Geste. »Treten Sie näher. Sie sind ganz verschwommen.«
    Ich stellte mich unmittelbar vor die Couch. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen, das gleich einen Klaps oder Kuss bekommt. Er starrte mich eine Weile lang an, dann wandte er den Blick ab. »Nein«, sagte er, als antworte er auf eine Frage. »Ich habe Sie noch nie gesehen.«
    Auf einem niedrigen Tisch standen eine Brandyflasche und zwei Gläser. Der alte Mann hatte mitbekommen, wohin mein Blick gewandert war, denn er lachte leise. »Ich muss Ihnen wohl ein Glas anbieten. Wir wollten gerade auf das Ende dieses besonders grässlichen Jahres anstoßen. Schließen Sie sich uns an?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich fand schon immer, dass es wichtiger ist, das alte Jahr mit Glanz und Gloria zu begraben, als das neue zu bejubeln.« Er deutete auf einen Sessel gegenüber von der Couch, auf den ich mich setzen sollte. »Und nun erklären Sie mir bitte, wer Sie sind. Wir kennen uns, sagen Sie.«
    Er füllte drei Gläser und reichte mir eines. Das andere war für Solange, die neben ihm stand. »Komm, meine Liebe«, sagte er. »Lass uns unseren Gast willkommen heißen.« Er klopfte auf das freie Ende der Couch, und sie nahm Platz. Irgendwie erinnerte sie mich an eine Tigerkatze, die sich zu Füßen ihres

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