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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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ich sah Schwierigkeiten auf mich zukommen. Er entschuldigte sich für die wirren Linien, beharrte aber darauf, dass sie nicht schwer zu entschlüsseln seien. Die Altstadt sei klein, beteuerte er. Das wusste ich bereits. » Ce n’est pas compliqué «, beteuerte der Wirt immer wieder.
    Zuerst führte mich seine Karte quer über die großzügig angelegte Place d’Armes mit ihrem Wachturm aus dem 13. Jahrhundert. Doch bald wurde das Straßennetz immer vertrackter. Der Graupelregen des Vortags hatte zwar aufgehört, aber es war kalt. Die Pflastersteine waren von einer Eisschicht überzogen. Ich war erst zehn Minuten unterwegs, als ich ausrutschte und auf die Tasche mit den Sachen für meinen Vater fiel. Ich setzte mich auf den Randstein und schaute nach, ob die Papiere und Fotografien unbeschädigt waren.
    Hier roch es noch stärker nach Fisch als auf dem großen Platz. Die Rinnsteine waren voll mit Abfällen, die aussahen, als hätten sie schon vor Anbruch des Winters dort gelegen. Ich ging weiter. Dem Gekritzel des Wirts folgend, bog ich erst links, dann rechts ab. Dann nahm ich wieder die nächste Querstraße rechts. In Calais waren, wie auch in den alten Stadtteilen von Montreal, Schilder mit Straßennamen an die Hauswände genagelt. Aber der Name, den ich jetzt vor mir sah, stand nirgendwo auf der Karte.
    Keine Menschenseele weit und breit. Kein Laden, kein Wirtshaus, kein lebendiges Wesen. In diesem Quartier lebten Hafenarbeiter und Seeleute, und für sie war Silvester zweifellos ein freier Tag. Vermutlich schliefen sie, vielleicht hatte die Stille allerdings auch schlimmere, unheilvollere Gründe.
    Ich ging aufs Geratewohl eine verlassene Straße entlang, meinem Instinkt folgend. Meine Stiefel klackten auf den Pflastersteinen und erzeugten einen Hall, der mir das Gefühl gab, verfolgt zu werden. Ich blickte über die Schulter, bis ich merkte, dass ich allein dieses Geräusch verursachte. Vor mir war an ein Steingebäude ein kleines weißes Schild geschraubt, doch auch dieser Straßenname sagte mir nichts. Ich ging weiter, mal hierhin, mal dahin, bis ich vollständig die Orientierung verlor.
    Die Kälte, die sich über diese nordfranzösische Stadt gesenkt hatte, war kriechend, ganz anders als die in Montreal. Als ich aus Kanada abreiste, musste ich mein Gesicht bedecken, und selbst dann hatte ich noch Mühe mit dem Atmen gehabt. Der Frost hatte Wimpern und lose Haarsträhnen weiß gefärbt. Calais hingegen war mir bei der Ankunft warm vorgekommen. Allmählich jedoch schlich sich die Feuchtigkeit in meine Kleider. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren.
    Wieder entdeckte ich einen Straßennamen an einer Wand, aber weil meine Brille beschlagen war, konnte ich ihn nicht gleich entziffern. Ich setzte die Brille ab, rieb die Gläser sauber und erkannte ein »V«. Noch ein paar Schritte, dann las ich die magischen Worte. Ich blieb stehen und holte mit geschlossenen Augen tief Luft. Mit einer armseligen Wegbeschreibung und meinem Instinkt als Orientierungshilfe war ich durch die eiskalten Straßen geirrt, und nun war ich endlich am Ziel.
    Es war eins der größeren Häuser in der Straße, sah aber viel düsterer aus, als ich erwartet hatte. Die graue Fassade unterschied sich farblich kaum vom Himmel über mir. Die unteren Fenster waren vergittert. Das war üblich in Calais, doch es gab dem Haus ein wachsames, argwöhnisches Aussehen.
    Ein Gehsteig für Fußgänger existierte nicht, nur ein Streifen Erde neben den Pflastersteinen, mit den vereisten Abdrücken von Stiefelsohlen. Ich tastete mich zum Haus meines Vaters vor. Der kleine Vorgarten war für den Winter vorbereitet worden: Jemand hatte die Sträucher mit Sackleinen und Schnur umhüllt. Ich stellte mir vor, wie Honoré Bourret sich dieser Aufgaben annahm. Allem Anschein nach war er ein gewissenhafter Mensch.
    Die Frau, die an die Tür kam, war jünger als ich, wenn auch nicht viel, und trug bequeme Häkelpantoffeln und einen alten Rock. Sie hatte kupferrote Haare, die am Scheitel und an den Schläfen graue Ansätze zeigten, und machte kein besonders freundliches Gesicht.
    »Ich suche Dr. Bourret«, sagte ich auf Französisch.
    » Il ne travaille plus «, erwiderte sie. Ohne auch nur nachzufragen, was ich wolle, verwies sich mich an einen anderen Arzt, einen Herrn namens Babin, der offenbar die Praxis meines Vaters gekauft hatte. Seine Praxis befinde sich ein paar Straßen südlich von hier, erklärte die Frau, aber über die Feiertage sei sie mit Sicherheit

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