Das Geheimnis der Herzen
mit meiner Gouvernante mithalten, und allmählich dämmerte mir, was ich für ein Glück gehabt hatte, dass Miss Skerry zu uns ins Haus gekommen war.
Anfang Oktober, als die Blätter zu fallen begannen, ging es auch mit meinen Noten abwärts. Miss Skerry tat, was sie konnte, um mein Interesse wieder zu entfachen, aber ich war zu enttäuscht, um auf sie zu hören. Im November verkündete die McGill-Universität, sie suche für ihr allgemeinbildendes Studienprogramm im dritten Jahr seines Bestehens auch weibliche Studierende. Miss Symmers erklärte uns, das Mädchen mit dem besten Gesamtnotenschnitt im Abschlusszeugnis bekomme ein Stipendium, damit es seine Studien fortsetzen könne.
Genau das war es, was ich brauchte. Ich stürzte mich fortan mit demselben Fleiß auf die Hauswirtschaft wie auf das Auswendiglernen von Geschichten über Sir Isaak Newton und seinen Apfel. Im März legte ich die Aufnahmeprüfung für die Universität ab und wurde angenommen.
Es gab nur ein Hindernis: meine Großmutter. Auch als ich ihr erzählte, dass ich ein Stipendium bekommen und das Ganze sie keinen Penny kosten würde, wollte sie nicht zustimmen. Die Vorstellung, mich in der Stadt meines Vaters wohnen zu lassen, allein und ohne dass sie strengstens über meine Tugend und meinen Anstand wachen konnte, war einfach zu viel für sie. Miss Skerry sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich müsse nur in der Schule mein Bestes geben, dann werde es schon klappen. Ich war mir da nicht so sicher. Wenn Großmutter sich einmal eine Meinung gebildet hatte, hielt sie daran fest.
Der Duft von frisch gebackenem Brot holte mich aus meinen Gedanken. Pain frais , verkündete ein handgemaltes Schild in einem Bäckereischaufenster. Frische Pein, dachte ich sprachspielerisch, im Gegensatz zu der schalen alten Pein, an die ich so gewöhnt war. Beim Gedanken an ein einfaches Brötchen oder ein Croissant lief mir das Wasser im Mund zusammen, aber ich hatte kein Geld.
Die St. Catherine Street war schäbiger, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich spähte nach den Hausnummern, sagte die Adresse, die ich suchte, wie eine Beschwörungsformel vor mich hin. Ich war so vertieft, dass ich zuerst an dem unscheinbaren grauen Haus vorbeiging. Von der Straßenseite her wirkte es klein, aber es war eins von diesen Gebäuden, die an Tiefe wettmachen, was ihnen an Breite fehlt. Die Mauersteine waren schwärzlich verfärbt, bis auf eine Stelle neben der Tür, wo sich früher ein kleines Bronzeschild mit dem eingravierten Namen meines Vaters befunden hatte. Jetzt hing über der Tür ein Holzschild mit dem Abbild einer Nadel und einer Garnrolle.
Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert, was dem Haus etwas Abweisendes gab, aber die darüberliegenden Fenster waren frei. Mein Blick wanderte hinauf zu den oberen Zimmern, direkt unter dem Dachsims, und ich fragte mich, ob die Leute, die jetzt hier wohnten, die traurige Geschichte des Hauses kannten. Auf dem Gehweg näherten sich Leute, also schlüpfte ich, an Abfallkisten vorbei, in einen Durchgang.
Der Durchgang war so eng, dass ich mit ausgestreckten Armen auf beiden Seiten die Hausmauern berühren konnte. Von unserem ehemaligen Haus gingen nur zwei Fenster hier heraus, und beide waren vergittert. Ich zog mich zu dem hinteren Fenster hinauf, aber die Scheibe war so schmutzig, dass ich nichts sah als mein staubiges Spiegelbild. Ein Hund bell te, deshalb ließ ich mich wieder hinunter und ging zur St. Catherine Street zurück. Als mich nur noch wenige Schritte vom Licht und vom Lärm trennten, befahl mir plötzlich eine laute Stimme, stehen zu bleiben. Ein Mann war aus dem Haus getreten. Im Morgenlicht wirkte er seltsam diffus, fast wie ein Geist. Ich konnte nur sein Profil sehen. Er war nicht groß, dafür aber umso dicker. Ich strengte meine Augen an, um sein Gesicht zu erkennen. Da sagte er wieder etwas.
Die Wörter waren französisch, aber der Akzent war es nicht, das hörte ich. Er kam ein paar Schritte auf mich zu, und ich blickte in ein fremdes Gesicht.
»Mais qu’est-ce que vous fâites là?«
Er war genauso erschrocken wie ich. Wahrscheinlich hatte er mich für einen Dieb gehalten, der bei den Mülltonnen he rumschlich. Ich antwortete nicht gleich, deshalb schaltete er auf Englisch um, das er ebenfalls mit der angestrengten Artikulation eines Ausländers sprach. »Dies ist Privatbesitz.« Er ist Deutscher, dachte ich, und noch nicht lange hier.
Ein Hund stürzte bellend auf uns zu – so schnell, dass ich
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