Das Geheimnis der Herzen
keine Zeit hatte, mich zu schützen. Ich fiel hin, auf Hände und Kinn, und meine Brille flog fort. Plötzlich war der enge Durchgang ganz verschwommen.
Der Hund hatte sabbernde rosarote Lefzen – so viel konnte ich erkennen – und gab bedrohliche Geräusche von sich, auch dann noch, als der Mann ihn am Halsband gepackt und von mir weggezogen hatte. Hunde konnte ich nicht leiden – noch nie. Meine Großmutter sagte, das sei wegen Galen. So hieß der Hund, den mein Vater gehabt hatte, als ich klein war. Er war ängstlich gewesen und hatte mich gebissen. Der Mann musste mir meine Furcht angesehen haben, denn er hob die Hand, als wollte er das Tier schlagen. Sofort gab der Hund Ruhe, und der Mann wandte sich wieder mir zu und schien jetzt erst zu bemerken, wen er da vor sich hatte.
»Aber Sie sind ja ein Mädchen!«, rief er. Er musterte meine sauberen Haare und meine Schuluniform. »Ein junges Mädchen. Es tut mir sehr leid.« Er streckte mir die freie Hand hin, brauchte sie dann aber wieder, um den Hund zurückzuhalten. »Kommen Sie herein«, sagte er und zerrte das Tier zur Haustür. »Sie ist ein Wachhund, Sie müssen ihr verzeihen. Aber, bitte, kommen Sie doch herein und setzen Sie sich einen Moment. Meine Frau bringt Ihnen etwas zu trinken.«
Seine Wirbelsäule war gekrümmt wie ein Hirtenstab, er hatte eine Glatze und sah überhaupt nicht aus wie mein Vater. Er öffnete die Haustür, forderte mich mit einer Handbewegung auf, einzutreten, und band dann den Hund draußen an einen Pfosten.
Als ich über die Schwelle trat, fühlte ich mich wie eine Diebin. Der alte Mann hatte keine Ahnung, was es für mich bedeutete, in diesem Haus zu sein. Ich erinnerte mich an alles, als wäre es die ganze Zeit in mir gewesen und hätte nur darauf gewartet, mir wieder einzufallen. Nur die Gerüche stimmten nicht. Alles andere war mir sehr vertraut. Ich hätte den Mann ohne Probleme in die Küche führen können, wo seine Frau für uns Kaffee machen würde. Der Gang vor mir war lang und dunkel, mit einem Läufer von einem Ende zum anderen. Ich hatte oft von diesem Gang geträumt, wurde mir plötzlich bewusst. Und von diesem Läufer. Ich kannte die breite Eichenholztreppe, die zu den Schlafzimmern im oberen Stock führte, und die engere, dunklere Treppe weiter hinauf zu den Dachkammern. Als Erstes kamen wir am Empfangszimmer vorbei, wo meine Eltern Ärzte und Professoren mit ihren Gattinnen zu Gast gehabt hatten. Ich spähte hinein, blieb aber nicht stehen. Der Raum, den ich suchte, lag nach hinten hinaus, im privateren Teil des Hauses.
Als wir dort ankamen, war es ein Schock. Der Raum selbst war natürlich noch derselbe, aber was dort stand, war so anders als früher, dass ich auf den ersten Blick nichts wiedererkannte. Erschwerend kam hinzu, dass das Fenster, durch das ich vorhin schauen wollte, nur wenig Licht hereinließ. Die Regale waren noch da, aber statt der Laborgläser enthielten sie nun Stapel von Stoffballen, deren hohle Enden wie verblüffte Münder aussahen. In der Mitte stand ein Tisch, vielleicht der, an dem mein Vater seine Sektionen durchgeführt hatte, aber jetzt lagen darauf Schnittmuster und Stoffbahnen. In einer Ecke standen zwei Nähmaschinen.
»Mögen Sie Kleider?«, fragte der Mann.
»Ja«, log ich.
»Soll ich Ihnen etwas schneidern? Meine Frau kann bei Ihnen die Maße nehmen.«
In dem Moment kam eine ältere Frau mit beunruhigtem Blick den Gang entlang. Sie musterte mich misstrauisch, aber als ihr der Schneider, der sich als Mr Froelich vorstellte, etwas auf Deutsch erklärte, wurde ihr Gesicht weicher. »Der Hund hat Sie angesprungen«, sagte sie auf Englisch zu mir. »Das tut uns sehr leid.«
Ich erwiderte, mir sei nichts passiert, obwohl ich so fest mit dem Kinn aufgeschlagen war, dass es wehtat.
Die Frau bemerkte es. »Sie haben sich aufgeschürft«, sagte sie und berührte meine Kieferpartie. »Es wird dick. Kommen Sie in die Küche, ich verarzte Sie.«
Ich wollte die Werkstatt nicht verlassen, konnte ihr aber nicht gut widersprechen. Also folgte ich ihr den Gang entlang. Sie ließ mich am Küchentisch Platz nehmen, gab mir zerstoßenes Eis in einem Taschentuch und bereitete mir dann eine kleine Stärkung zu. »Mandelbrot«, sagte sie, als sie mir einen Teller mit eierschalfarbenen Plätzchen und einen Becher hinstellte. »Ein bisschen was Süßes schadet Ihnen bestimmt nicht.«
Der Kaffee war so stark, dass meine Fingerspitzen kribbelten, aber er tat gut. Die Frau lächelte. »Sie sind
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