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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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den Blick gesenkt, wenn sie in der Nähe war. Jetzt zog das Gesicht meiner Zimmergenossin – wie jedes Gesicht, das mir begegnete – meinen Blick magisch an, weil es alle möglichen faszinierenden Einzelheiten bot. Die Anschaffung der Brille war ein wichtiges Ereignis gewesen, so ähnlich wie der Tag, als ich zum ersten Mal durch ein Mikroskop blickte. Nie würde ich vergessen, welche Ehrfurcht ich beim Blick durch das Okular empfand.
    Janies Mund war sinnlich, aber bei näherem Hinsehen bemerkte man die herabgezogenen Mundwinkel. In der Öffentlichkeit, wenn sie mit ihrer Clique aus lauter hübschen und beliebten Mädchen unterwegs war, lachte sie immer. Aber in der Abgeschiedenheit unseres Zimmers, wenn sie dachte, sie sei allein, kam ihre Traurigkeit durch. Janies Mutter war zum zweiten Mal verheiratet. Janie war nicht zum Lernen ins Pensionat der Misses Symmers und Smith geschickt worden, sie war hier, damit ihr Stiefvater kein Kind im Haus ertragen musste.
    Meine Bloomers und meine Schuluniform lagen über dem Stuhl neben Janies Kopf. Ich setzte mich auf und griff nach den Sachen. Sofort schlug Janie die Augen auf. »Es ist doch noch gar nicht richtig Tag, Sankt Agnes.«
    Der Spitzname war auch etwas, was ich nicht vermissen würde. Ich ertrug ihn schon seit Oktober, als wir in Englisch Keats und die Romantik durchgenommen hatten, und er war nicht als Kompliment gemeint. Ich war die Neue, ein Mädchen vom Land, das innerhalb von wenigen Monaten die Spitzenschülerinnen des Pensionats überholt und den besten Abschlussnotenschnitt aller Zeiten erreicht hatte. Janie hatte mir diesen Spitznamen verpasst und prophezeit, ich würde bis an mein Lebensende Jungfrau bleiben, genau wie die heilige Märtyrerin.
    »Warum ziehst du das olle Ding an?« Janie stülpte die Unterlippe nach außen und enthüllte eine Reihe regelmäßiger, weißer Zähne. »Wir dürfen doch tragen, was wir wollen, weißt du das nicht mehr?« Sie stützte sich auf einen Ellbogen und griff nach ihrer eigenen Uniform, die zerknautscht auf ihrem Bett lag. »Mal unter uns«, sagte sie, »wenn ich zu Hause bin, wird das Ding verbrannt – schneller als wie du ›Feuer‹ sagen kannst.«
    Ich schaute an die rissige Decke. Janie Banks Geoffreys war jetzt zehn Jahre im Pensionat der Misses Symmers und Smith und hatte in der ganzen Zeit den Gebrauch von »als« und »wie« nicht begriffen. Wie so viele der Mädchen hier interessierte sie sich nicht die Bohne für Bildung.
    »Hu-hu«, machte Janie, um mich aus meinen Gedanken zu reißen. »Wo bist du schon wieder, Agnes? Manchmal glotzt du richtig vor dich hin. Ich habe gerade gesagt, wir dürfen doch heute richtige Sachen anziehen.«
    Weil ich die Achseln zuckte, sprang Janie aus dem Bett, als würde sie eine Maus wittern, und baute sich vor mir auf. »Gib her«, sagte sie. »Heute tragen wir alle was Hübsches. Du auch.«
    Janie öffnete unseren Schrank, und zum Vorschein kam eine umfangreiche Kollektion von Kleidern, die fast alle ihr gehörten. Sie nahm eines, das eher die Ausnahme war – ein schlichtes weißes Baumwollkleid. »Hier.«
    Ich schüttelte den Kopf. Weiß machte mich dick, und das taillierte Miederoberteil erinnerte mich an ein Brautkleid.
    Janie hielt das Kleid hoch und ließ es tanzen wie eine Marionette, indem sie mit dem Bügel wackelte. »Komm schon, Agnes. Das ist genau das Richtige für eine Heilige!«
    Ich zog mir das Oberteil der Schuluniform über den Kopf. »Ich muss los.«
    Janie hörte auf, mit dem Bügel zu wackeln. »Was heißt ›los‹? Du verpasst ja das Frühstück!« Ihr Gesichtsausdruck wechselte abrupt von verdutzt zu hinterhältig. Sie setzte sich auf mein Bett. »Was geht hier vor, Agnes? Ich spüre doch, dass etwas ganz und gar nicht Heiligenhaftes im Busch ist.«
    Janies Denken kannte nur eine Richtung. Es war fast schon albern, wie für sie alle Wege zu Jungen führten. Ich band mir meine Schärpe um und genierte mich, weil Janie mich so eingehend musterte. »Ich muss noch etwas erledigen. Das ist meine letzte Chance.«
    »Du musst etwas erledigen«, wiederholte Janie. Sie nahm meine Uhr und schaute blinzelnd darauf. »Um sechs Uhr morgens?« Sie legte die Uhr wieder fort. »Wenn du mich veräppeln willst, musst du früher aufstehen. Oder nein – später.«
    Die Spannung löste sich – wir lachten beide.
    »Ist es ein Mann? Komm schon – gesteh!«
    Licht drang durch die dünnen Vorhänge. Bald würden auf den Gängen lauter Mädchen vor den Toiletten

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