Das Geheimnis der Herzen
Schülerin? Wir haben eine Kundin von dieser Schule«, sagte sie und zeigte auf meine Uniform, dann wandte sie sich an ihren Mann und fragte nach dem Namen.
»Irgendwas mit Banks«, sagte er.
»Banks Geoffreys«, sagte ich, entsetzt bei dem Gedanken, dass Janie dieses Haus betreten hatte.
»Genau!«, sagte die Frau lachend. »Sie kennen Janie? Ein reizendes Mädchen.«
Ich trank meinen Kaffee und schlug die Augen nieder. Das Mandelbrot mit dem leichten Aprikosen- und Marzipanaroma war köstlich.
»Brauchen Sie vielleicht ein Kleid für die Abschlussfeier?«, fragte sie, als die Unterhaltung stockte. Und schon zog sie ein gelbes Maßband aus der Tasche.
Ich schüttelte den Kopf. Sie und Mr Froelich hatten sicher gehofft, ich sei eine Kundin. Jetzt, da ich das verneinte, würden sie wissen wollen, warum ich mich hinter ihrem Haus herumgetrieben hatte. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mir etwas nähen zu lassen.«
Mrs Froelichs Augen wurden schmal.
Mir fiel keine überzeugende Ausrede ein, also erzählte ich schließlich einen Teil meiner Geschichte.
»Was hat Ihr Vater gemacht?«, erkundigte sich die Frau. Sie überlegte wohl immer noch, ob sie mir trauen konnte.
»Er war Arzt und hat an der McGill gelehrt.«
»Ja«, sagte der Schneider. »Das stimmt! Als wir eingezogen sind, waren hier noch viele seltsame Sachen von ihm. Weißt du noch, Erika?«
Die alte Frau schüttelte sich. »Ob ich es noch weiß? Ich hatte monatelang Albträume. Sachen in Gläsern und Flaschen. Sachen, die aus Leichen herausgeschnitten waren!«
»Der Raum gleich neben der Küche«, sagte ich. »Ihre Werk statt …«
Ich brachte meinen Satz nicht zu Ende, weil Mr Froelich mir ins Wort fiel und erklärte, das sei der schlimmste Raum im ganzen Haus gewesen. »Es war der Raum, in dem Ihr Vater gearbeitet hat. Meiner Frau war er ein Gräuel. Sie schwört bis heute, dass es dort Gespenster gibt.«
Ich sah seine Frau an, dachte aber an eine andere Frau, die diesen Raum ebenfalls verabscheut hatte. Meine Mutter hatte ihm sogar einen Namen gegeben – das »Horrorkabinett«. Seit Jahren hatte ich nicht mehr daran gedacht.
»Was ist aus den Präparaten geworden?« Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen, obwohl es für mich überhaupt keine beiläufige Frage war. Mein Vater hatte einen Teil unseres Besitzes hier zurückgelassen, als wir nach St. Andrews East fliehen mussten – unter anderem all das, was sich in diesem Raum befunden hatte. Ich wusste nicht, welche Verfügungen er getroffen hatte. Vielleicht hatten die Froelichs ja einfach alles an sich genommen. Dann befand sich vielleicht noch etwas hier im Haus.
Mrs Froelich musterte mich merkwürdig. »Es hatte alles seine Ordnung. Es gab ein notarielles Dokument.« Hatte sie Angst, ich könnte Forderungen stellen? Ich nahm mir einen Moment Zeit, sie zu beruhigen.
»Wir sind nur gemietet«, sagte der Mann.
»Mieter«, berichtigte ihn seine Frau, die besser Englisch konnte.
»Dann gehört Ihnen das Haus gar nicht?«, fragte ich.
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ein anderer Arzt hat es Ihrem Vater abgekauft. William Howlett heißt der Mann. Er ist unser Hauswirt. Vielleicht kennen Sie ihn ja?«
Der Name sagte mir nichts. Ich lenkte das Gespräch wieder auf das, was mich am meisten interessierte: die Hinterlassenschaften meines Vaters. Ich musste an das kleine Skelett denken, mit dem ich immer gespielt hatte. Ob es wohl im Müll gelandet war?
»Wir haben alles weggepackt«, sagte der alte Mann schließlich. Dann sah er seine Frau an und berichtigte: » Ich habe es weggepackt. Meine Frau wollte die Sachen nicht anrühren.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber mich hat es davor gegruselt. Ich war froh, als alles fort war.« Sie schüttelte abermals den Kopf und sagte achselzuckend: »Ich bin eine einfache Frau. Mit diesem Zeug im Haus konnte ich nicht schlafen.«
»Sie haben es weggeworfen?«, fragte ich bestürzt.
»Nein, nein«, sagte der Schneider. »Wie gesagt – ich habe es alles weggepackt. Der andere Arzt hat es dann geholt. Dr. Howlett.«
Die alte Frau funkelte ihren Mann ärgerlich an und trat ihm unterm Tisch gegen das Schienbein. Offensichtlich wollte sie nicht, dass er noch mehr verriet.
»Etwas von Ihrem Vater haben wir allerdings behalten«, gestand sie schließlich – vielleicht, weil sie mich ablenken wollte, vielleicht aber auch aus Freundlichkeit. »Das können wir Ihnen geben.« Sie trat an eine Schublade neben der
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