Das Geheimnis der Herzen
anstehen. Wenn ich aus dem Haus wollte, musste es jetzt sein. »Deckst du mich?«
Janie lächelte. »Das ist einfach zauberhaft! Wer hätte dir das zugetraut?«
»Sag einfach, ich probe meine Rede, wenn jemand dich fragt.« Ich sollte an diesem Tag die Abschlussrede halten. Das war die perfekte Entschuldigung.
Janie grinste. »Sieht er gut aus?«
Ich setzte ein Lächeln auf, das, wie ich hoffte, dem der Mona Lisa glich, schnappte mir meine Strickjacke und ging hinaus. Bei meiner Rückkehr würden die Gerüchte durch die Gänge schwirren wie Schmeißfliegen, da Verschwiegenheit nicht zu Janie Banks’ Repertoire gehörte, aber das war mir egal. Heute Abend lag die Schule ein für alle Mal hinter mir. Da konnten sie sich zusammenfantasieren, was sie wollten.
In der Stadt lag Schnee. Kein richtiger Schnee natürlich, da ja fast Sommer war, aber etwas, das im ersten Moment genauso aussah – Pappelsamen. Ich haschte nach den wattigen Flöckchen in der Luft. Jeden Juni gab es das in Montreal und auch in St. Andrews East – eine Art Winter zur falschen Zeit.
Das Pensionat der Misses Symmers und Smith befand sich am steilsten Stück der Peel Street, im Schatten des Mount Royal. Ich rannte bergab und verlangsamte meinen Schritt erst, als ich an der Sherbrooke Street flacheres Terrain erreichte. Zuerst ging ich noch etwas weiter nach Süden, bog dann aber ostwärts ins Geschäftsviertel ab. An der Ecke verhökerte ein Junge mit einer klaren, schönen Stimme Zeitungen. Eine Straßenbahn rumpelte vorbei. Die Frühlingsgerüche Montreals waren an dem Morgen intensiver denn je. Dies war meine Geburtsstadt, und ich fand es herrlich, sie zu erkunden. Weil die Straßen angeblich für junge Mädchen zu gefährlich waren, kam ich nicht oft aus dem Pensionat hinaus. Ganz gut kannte ich den Windsor-Bahnhof und den Weg von dort zum Pensionat. Und ich kannte auch die St.-Johannes-Evangelist-Kirche unten in der St. Urbain Street, wo die meisten meiner Klassenkameradinnen und ich sonntags den Gottesdienst besuchten. Sobald der zu Ende war, mussten wir allerdings auf direktem Wege wieder zum Pensionat hinaufmarschieren.
Ich musterte die Köpfe, die vor mir den hölzernen Gehsteig entlangwippten. Fast jedes Mal, wenn ich in die Stadt ging, sah ich ihn. Vermutlich war es auch heute so – obwohl sich durch die Brille einiges geändert hatte. Denn eigentlich war es ja nicht er , den ich sah. Aber dieses Wissen dämpfte weder die freudige Erregung noch den Schmerz. Ich musste nur ein Stück von einem dunkelhaarigen Kopf oder von einer Schulter sehen, und schon blieb ich abrupt stehen. Manchmal waren es gar nicht seine körperlichen Merkmale, sondern sein Gang oder der schief sitzende Hut. Diese ersten Sekunden, wenn die Hoffnung aufwallte, waren so schön, dass sie die Enttäuschung wettmachten, wenn er sich schließlich umdrehte und mir ein Gesicht zuwandte, das ich nicht kannte.
Niemand schenkte mir auch nur die geringste Beachtung. Nie. Das ist das einzig Gute daran, wenn man klein und unscheinbar ist. Ich konnte unbemerkt durch die Straßen der Stadt wandern und so tun, als wäre ich nur ein Augenpaar, losgelöst von meinem weiblichen Körper. Niemand kam auf die Idee, mich zu belästigen.
Ich fand es wunderbar, durch Montreal zu gehen, wo die Leute meinen Namen nicht kannten. So oft während dieses Jahres hatte ich mich gefragt, wie es wäre, hier zu leben, in einer großen Stadt. Natürlich kam das nicht infrage. Großmutter hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nächstes Jahr in St. Andrews East gebraucht wurde. Und in allen folgenden Jahren natürlich auch.
Das Pensionat der Misses Symmers und Smith hatte es mir zwar ermöglicht, von zu Hause fortzukommen, aber ansonsten war der Aufenthalt dort eher von mäßigem Nutzen gewesen. Zum Lehrplan gehörte täglicher Hauswirtschaftsunterricht, in dem man Sachen zuschneiden und nähen musste. In Mathematik hatte ich mich angestrengt, aber das war auch das einzige Fach, in dem ich wirklich gefordert war. Der naturwissenschaftliche Unterricht an dieser Schule beinhaltete weder empirische Beobachtungen noch Sezieren oder Mikroskopieren. Die meiste Zeit lernten wir die Namen herausragender Männer und die Daten ihrer wichtigen Entdeckungen auswendig. In Latein ging es um so einfache Kenntnisse, dass man mir nach der vierten oder fünften Stunde erlaubt hatte, draußen auf dem Gang zu sitzen und Romane zu lesen. Miss Symmers und Miss Smith gaben sich alle Mühe, konnten aber nicht
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