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Das Geheimnis der Herzen

Das Geheimnis der Herzen

Titel: Das Geheimnis der Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claire Holden Rothman
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mein Bett. »Wie willst du deine Haare tragen, Agnes?«, fragte sie, drehte mich um meine eigene Achse und musterte mich nachdenklich.
    Ich hasste die ganze Prozedur. Ich hatte viele positive Eigenschaften, aber mein Aussehen gehörte nicht dazu. Und kein Kleid und keine Frisur konnten diese Tatsache kaschieren.
    Obwohl ich protestierte, nahm Großmutter mir meine Brille ab und manövrierte mich in das weiße Kleid, während Laure schon anfing, mir die Haare zu flechten. Miss Skerry beteiligte sich nicht an diesen Maßnahmen, sondern blätterte in meinen Heften und Lehrbüchern. Ich deutete das als eine subtile Form der Solidarität, wenn ich es auch nicht mit Sicherheit sagen konnte – Miss Skerrys Gesicht war jetzt genauso verschwommen wie alles Übrige im Zimmer.
    »Die Preise bekomme ich für meine Intelligenz«, sagte ich.
    Großmutter warf Miss Skerry einen vielsagenden Blick zu. »Diese Schule war kein uneingeschränkter Erfolg, Georgina«, sagte sie. »Die Zeit hier hat wenig dazu beigetragen, Agnes’ Kanten zu glätten.«
    »Das ist unfair«, schoss ich zurück. »Was ich brauche, ist eine Umgebung, wo es wirklich um Wissen geht, wo das zählt, was in einem steckt, nicht das Äußere.«
    »Form ist genauso wichtig wie Inhalt«, sagte Miss Skerry, die in den vier Jahren, die ich sie jetzt kannte, nie mehr als ein rudimentäres Interesse für Kleider gezeigt hatte. »Beides zusammen ergibt ein Ganzes.«
    »Eine Schuluniform passt perfekt zu einem gebildeten Menschen«, fauchte ich. »So, wie eine Brille perfekt zu Augen passt, die gern lesen.«
    Miss Skerry schüttelte den Kopf. »Wie die Franzosen sagen, Agnes: Es ist nicht nötig, offene Türen einzurennen. Du stehst heute im Mittelpunkt der Ehrungen. Ich muss deiner Großmutter zustimmen. Da solltest du auch entsprechend aussehen.«
    Kurz vor elf Uhr führten sie mich die Treppe zum Hauptge schoss hinab. Vor der Aula herrschte schon großer Andrang. Ein paar Mädchen winkten, waren aber so verschwommen, dass ich nur eins von ihnen identifizieren konnte – Felicity Hingston, die einzige Schülerin des Pensionats, die für mich so etwas wie eine Freundin war. Sie war über einen Meter achtzig groß und hatte dünne, behaarte Arme und Beine. Deshalb war sie unverkennbar. Bevor ich kam, war sie die beste Schülerin gewesen.
    Die verschwommene Sicht war in gewisser Weise tröstlich. Sie erinnerte mich an meine Kindheit, als ich nur undeutliche Formen wahrgenommen hatte und gar nicht auf die Idee gekommen war, dass da mehr sein könnte. Wir trotteten alle nach vorn, um unsere Abschlusszeugnisse in Empfang zu nehmen, aber dann musste ich noch einmal aufstehen – und ein drittes und viertes Mal –, bis mir der Schweiß in Strömen aus den Achselhöhlen rann. Mein Kleid war jetzt stellenweise durchsichtig von der Nässe. Ich hatte in diesem Jahr alle schulischen Preise gewonnen.
    Jedes Mal, wenn mein Name genannt wurde, musste ich den Mittelgang entlanggehen, durch Scharen von Mädchen. Mir war klar, wie albern ich aussah. Mein Kleid war zu eng und stellte eine Figur zur Schau, die ich normalerweise unter der weiten Tunika meiner Schuluniform versteckte. In der Aula war es so heiß wie in Großmutters Küche am Backtag, und die Leute wurden unruhig. Als ich schließlich für meinen letzten Preis und die Schlussrede nach vorn gerufen wurde, stöhnten ein paar Mädchen sogar.
    Das Publikum applaudierte erneut, aber diesmal nur mechanisch. Ich hörte Rascheln und ersticktes Lachen. Als ich vorn ankam, war offenkundig, dass die meisten meiner Mitschülerinnen mir nicht besonders viel Sympathie entgegenbrachten. Schließlich mussten sie meinetwegen immer noch in dieser stickigen Hitze herumsitzen, und die meisten interessierten sich weder für intellektuelle Dinge, noch machten sie sich etwas aus Schulnoten. Miss Symmers merkte das alles nicht. Sie stand lächelnd vor mir. Ich sollte meine Rede halten und dann mein Stipendiumsgeld in Empfang nehmen, für das Studium an der McGill. Ich hatte sie oft geprobt, aber plötzlich erschien sie mir nicht mehr angemessen. Ich stand am Rednerpult, starrte in das Meer von glänzenden, verschwommenen Gesichtern und merkte, dass mir kein einziges Wort mehr einfiel. Ich hatte mir die Hauptpunkte auf Kärtchen notiert, und von diesen las ich jetzt mit piepsig verkrampfter Stimme ab. Es war nicht die Rede, die ich so sorgfältig vorbereitet hatte, sondern ein holpriges, verstümmeltes Etwas, das keinen großen Sinn ergab – falls

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