Das Geheimnis der Herzen
und ausgeglichenes Mädchen bist.«
»Wie heißt er?«
Die Gouvernante sah mich an und wartete einen Moment, ehe sie antwortete: »Campbell.«
Ich packte ihren Arm und, meine ganze Müdigkeit vergessend, stieß ich hervor: »Sie sprechen doch nicht vom Dekan der Medizin am Bishop’s College?«
Miss Skerry legte verschmitzt den Kopf schief. »Und wenn doch?«
Ich warf die Decke von mir und sprang aus dem Bett. »Wollen Sie mir erzählen, Sie arbeiten beim Dekan der medizinischen Fakultät der Bishop’s?«
»Das versuche ich dir seit einer Weile zu sagen, ja.« Miss Skerry lachte. »Dr. Campbell weiß übrigens, dass ich hier bin. Er hat mich gebeten, das hier zu überbringen.«
Sie reichte mir einen kleinen, cremefarbenen Umschlag. Darin steckte eine von Dr. F. Wayland Campbell handgeschriebene Mitteilung auf einem Briefbogen mit dem geprägten Briefkopf der Hochschule. Das Bishop’s College, stand da, würde sich freuen, mir zum Herbstsemester 1890 einen Studienplatz an der medizinischen Fakultät zur Verfügung zu stellen.
»Aber dieser Mann findet die Vorstellung, dass Frauen den Arztberuf ausüben, widerlich!«, sagte ich. »Das hat er selbst der Zeitung gesagt.«
»Mag ja sein«, meinte die Gouvernante. »Aber Dr. Campbell ist kein Dummkopf. Es ist für das Bishop’s College ein Geschenk des Himmels, dass es sich in dieser Situation liberaler zeigen kann als die McGill. Die beiden Hochschulen konkurrieren doch miteinander – oder nicht?«
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nur ein Nachthemd anhatte, also rannte ich zum Kleiderschrank, um meinen Morgenrock überzuwerfen, und bombardierte dabei Miss Skerry mit Fragen, wie es zu diesem Angebot gekommen sei.
Miss Skerry stand nur steif da und betrachtete mich mit ihrem eigentümlichen Lächeln. Lewis Carrolls Cheshire-Katze in Person. Nach einer ganzen Weile sagte sie schließlich: »Hm.«
»Hm – was?«, fragte ich, kribbelig vor Ungeduld. Ich wollte endlich Antwort auf meine vielen Fragen.
»Kann es sein, Dr. White, dass wir ein Heilmittel gefunden haben?«
II
ARS MEDICA
Die Seltenheit von Herzfehlern, ihre unklaren Ursachen und Symptome sowie ihre oft schwerwiegende klinische Bedeutung machen die angeborenen Herzleiden zu einem Thema
von größter Wichtigkeit.
– MAUDE ABBOTT, »ANGEBORENE HERZFEHLER«
9
September 1898
A ls ich hinaus auf die Straße trat, tat mir das Licht in den Augen weh. Der Praxisraum, den ich im obersten Stockwerk dieses Stadthauses in der Mansfield Street gemietet hatte, war so klein und dunkel, dass meine Pupillen ständig verengt blieben. Aber weil ich nicht auf einem Fenster beharrt hatte, war auch die Miete sehr niedrig. Solange ich oben war, merkte ich das gar nicht, aber hier draußen im Freien wurde ich mir des Mangels schmerzhaft bewusst.
Mein Mantel, den ich mir vor drei Jahren für meine Europareise gekauft hatte, war zu dick für diesen Tag. Gestern, als die Wolken wie in Panik geratene Herden über den Himmel jagten und die Temperatur abstürzte, war ich noch froh gewesen, dass ich ihn hatte. Aber heute war die Luft anders, mild und schmeichelnd, voller Verheißungen, die sie nicht erfüllen konnte. An solchen Herbsttagen konnte man hier in Montreal fast denken, dass das Wetter für immer so schön sein würde.
Die Büroangestellten machten Mittagspause, in Hemdsärmeln und mit Hosenträgern. Ein Mann ging pfeifend an mir vorbei, und ich beschleunigte meinen Schritt, um mit ihm mitzuhalten. Das Klacken meiner Absätze folgte dem Rhythmus seiner Schritte auf dem hölzernen Gehsteig. Vermutlich hatte der Herr einen Termin, oder er wollte sich vor der nächsten Sitzung noch etwas zu essen holen. Für mich galt das alles nicht. Es interessierte keine Menschenseele, ob ich mich für den Rest des Tages von meinem Praxisraum verabschiedete. Oder sogar für den Rest des Jahres. Ich hatte keine Termine, keine Verpflichtungen. Der Tag lag vor mir wie ein unbeschriebenes Blatt.
Im vergangenen Frühjahr war ich von meinen Studien in Europa zurückgekehrt, sprudelnd vor Energie. Die Reise hatte mir gutgetan. Die europäischen Universitäten waren fortschrittlicher als die in Nordamerika, und sie hatten mich empfangen, wie sie jeden anderen jungen Doktor empfangen hätten, der kommt, um sein Können und sein Wissen zu erweitern. In Europa wurde die Kompetenz von Frauen wie selbstverständlich anerkannt. Das erste Jahr verbrachte ich in Zürich, wo die Universität seit über zehn Jahren Frauen zum
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