Das Geheimnis der Herzen
hatte er recht. Sie war über achtzig. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war, dass ihre Enkelin zusammenklappte. Ich lag schwer und schlaff da, fühlte, wie sich die Matratze der Form meiner Hüfte anpasste und wie sie jedes Mal bebte, wenn ich einatmete. Ich war viel zu lange stark gewesen. Das war das Problem. Ich hatte so viele Schläge weggesteckt. Manchmal war ich unter der Wucht ins Stolpern geraten, hatte mich aber immer wieder aufgerappelt und weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Stärke war Lüge. Das begriff ich jetzt. Ich war so kaputt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mich je wieder von diesem Pfuhl aus Gänsedaunen zu erheben.
Eine Stunde später, als Dr. Osborne gegangen war und Großmutter sich mit Laure den Arbeiten im Haushalt widmete, lag ich im Bett und betrachtete das braune Fläschchen auf meinem Nachttisch. Lebertabletten, von einem fliegenden Händler gekauft. Wahrscheinlich bestanden sie nur aus Zucker und Wasser mit einer Prise Koffein oder sonst irgendeinem Anregungsmittel, das die Kranken und Matten etwas munterer machte. So gut wie nutzlos.
Es war ein schwüler Junitag. Ein Dienstag, wurde mir klar, weil Großmutter und Laure im Garten waren, um Laken auszuwringen und an die Wäscheleine zu klammern. Dienstag war unser Waschtag. Durch mein Fenster sah ich zu, wie die beiden die Laken strammzogen und in sich verdrehten, bis kaum noch ein Tropfen herauskam. Es fiel kein Wort. Sie waren in ihre Arbeit versunken, nahmen nichts anderes wahr.
Großmutter arbeitete gern. In gewisser Weise hielt die Arbeit sie bei Kräften. Sie wusch dienstags die Bettwäsche und putzte mittwochs ihr Silber. Der Donnerstag war dem Staubwischen vorbehalten, und am Freitag blieb sie in der Küche, um Kuchen und Plätzchen zu backen. Über sechzig Jahre hielt sie dieses geordnete Haushaltsritual jetzt schon ein. Die Priory war makellos sauber, die Speisekammer voll und das Leben so ausgefüllt, dass Großmutter nie auch nur einen Augenblick mit der Sinnlosigkeit konfrontiert gewesen war, die sich vor einem Monat wie ein Abgrund vor mir aufgetan hatte.
Großmutters weißes Haupt wippte in der Sonne. Der Junischneefall hatte eingesetzt. Flauschflöckchen drifteten träge vor einem azurblauen Himmel dahin. Kühe muhten auf den Weiden, und eine zwischen meiner Fensterscheibe und dem Gazevorhang gefangene Fliege summte sporadisch, wenn sie sich aufbäumte. Es war Sommer, eine Jahreszeit, die ich in St. Andrews East sonst immer geliebt hatte, weil man im Sommer Pause vom Lernen machte und stundenlang durch die Wälder streifen konnte. Aber dieses Jahr war es nicht wie sonst. Am Ende des Sommers wartete nichts, worauf ich mich freuen konnte.
In zwei Tagen war die feierliche Diplomübergabe. Wir waren in meinem Jahrgang an der McGill nur neun Mädchen gewesen, und sie alle würden auf die Bühne von Redpath Hall steigen, um ihr Diplom in Empfang zu nehmen. Alle außer mir. Ich hatte Großmutter erklärt, ich würde nicht hingehen. Daraus entwickelte sich eine lange Diskussion, und Großmutter bearbeitete mich, es bitte doch zu tun. Was für eine Ironie des Schicksals – die alte Frau, die früher so erbittert dagegen gewesen war, dass ich auch nur einen Fuß in die Universität setzte, befahl mir jetzt praktisch hinzugehen. Nach Dr. Osbornes Besuch ließ sie das Thema fallen.
Ich schloss die Augen, ließ die Sonne glühend rote Wirbel auf die Innenseite meiner Lider malen. Was hielt die Zukunft bereit? Laure würde Huntley Stewart heiraten und sich in Montreal niederlassen. Großmutter würde irgendwann sterben. Und was wurde aus mir, aus der hässlichen Schwester mit dem nutzlosen Universitätsabschluss, die keinerlei Heiratsaussichten hatte, dafür aber Intelligenz für drei besaß?
Nach dem Fiasko mit dem Medizinstudium hatten sich verschiedene Freundinnen eingeschaltet. Anfang Mai war ein Brief von Miss Symmers gekommen, in dem sie mir riet, mich an einem Lehrerinnenseminar zu bewerben. Wenn ich die Lehrerinnenprüfung abgelegt hätte, könnte meine ehema lige Schule mir eine Stelle anbieten. Felicity Hingston ging diesen Weg. Sie hatte schon ihre Studiengebühren am Lehrerinnenseminar bezahlt.
Ich strampelte die schmuddeligen Laken von mir. Eins der Mädchen aus meinem McGill-Jahrgang hatte vor, in Kingston Medizin zu studieren. Für mich kam das nicht infrage. Großmutter besaß einfach nicht das Geld, einen weiteren Haushalt zu finanzieren. Das Bishop’s College, die einzige andere Hochschule in
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