Das Geheimnis der Herzen
Begleiten Sie mich doch, wenn Sie ein bisschen Zeit haben.«
Ich war so überrascht, dass ich sofort meinen Schritt beschleunigte. Dr. Clarke war immer charmant gewesen, und ich hatte mich in seiner Gegenwart sehr respektiert gefühlt. Das war typisch für ihn – er erweckte den Eindruck, als würde er mich bitten, ihm Gesellschaft zu leisten, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war. Schon vor Monaten hatte ich erfahren, dass er inzwischen Dekan der medizinischen Fakultät an der McGill war.
»Arbeiten Sie hier in der Nähe?« Sein Blick sagte, dass es ihn tatsächlich interessierte. Dr. Clarke hatte sich als einziger meiner Medizinprofessoren während meines Studiums für mich interessiert. Als die einzige Frau im Jahrgang war ich aufgefallen wie ein bunter Hund. Die anderen Professoren hatten mich vor allem als Beleidigung und Bedrohung gesehen.
Ich erzählte ihm kurz von meiner Arbeit in Zürich und Wien und gab ihm eine Karte mit meiner Adresse in der Mansfield Street.
Er machte eine Bemerkung in der Richtung, dass weibliche Ärzte dringend gebraucht würden, weil sich Mütter und Kinder von ihnen entspannter behandeln ließen. Andere Leute hatten das auch schon zu mir gesagt, aber bei Dr. Clarke klang es aufrichtig. Ich verschwieg, dass nur wenige Mütter an meine Tür geklopft hatten, seit mein Schild dort hing.
»Sie sollten unbedingt mal im Vic vorbeischauen«, sagte Dr. Clarke und deutete auf das große Gebäude am Südhang des Mount Royal. Das Royal Victoria Hospital war gebaut worden, während ich in Europa war. Es erinnerte mich an ein Schloss, umgeben von goldenen Blättern, die in der Herbstsonne leuchteten.
Dr. Clarke schaute mich aufmerksam an. Plötzlich sah ich mich mit seinen Augen: das langweilige Kleid, das ich jeden Tag anhatte, als wäre ich eine Nonne, der geflickte Mantel, die abgetragenen Schuhe. Auf dem Weg zurück zu meinem Praxisraum musste ich unbedingt schwarze Schuhcreme kaufen. Wieso hatte ich mich nur so gehen lassen?
Er musterte mich immer noch. Am College hatte er mich in eine Gruppe von Studenten eingeladen, die er betreute. Zu dieser Gruppe hatte auch Joseph gehört, ein Schwarzer aus Jamaika, sowie mehrere Juden. Clarke nahm mich dazu, weil ich die einzige Frau im Jahrgang war. Ihm war es wichtig, uns namentlich zu kennen, und er legte die Veranstaltungen so, dass die jüdischen Studenten freitags früh nach Hause konnten, um den Sabbat zu begehen. Nachdem wir unseren Abschluss gemacht hatten, half er einigen von uns, eine Stellung zu finden. Es ging das Gerücht, Clarke sei selbst Jude. Er war Mitglied der presbyterianischen Kirche und mit einer Anglikanerin verheiratet. Seine Söhne hießen Christopher und Luke. Aber das Gerücht hielt sich hartnäckig.
»Ich muss mich jetzt leider von Ihnen trennen«, sagte er, als wir am Eingang der medizinischen Fakultät angekommen waren.
Ich nickte. Wer konnte ihm vorwerfen, dass er sich so rasch verabschiedete? Warum sollte der Dekan der Medizin an der McGill seine Zeit mit Leuten wie mir verschwenden?
»Wir müssen uns bald mal treffen.«
Wieder nickte ich, dankbar für seine zuvorkommenden Umgangsformen, aber ich hörte ihm nicht mehr richtig zu.
»Wie wäre es mit morgen? Ist Ihnen neun Uhr zu früh?« Seine dunkelbraunen Augen ließen mich nicht los.
Ich war so verdutzt, dass ich nicht gleich antwortete. Dr. Clarke meinte es ernst. Er war nicht einfach nur höflich.
»Also – um neun?«, wiederholte er und ließ mich nickend auf dem Pfad stehen.
Jetzt saß ich genau am selben Ort auf genau demselben Stuhl, auf dem ich vor acht Jahren gesessen hatte, damals, als Dekan Laidlaw mich zu sich gebeten hatte. Laidlaws Sekretärin, die korpulente Dame mit den herzlichen Umgangsformen, hatte ihre Stelle behalten und war jetzt Dekan Clarkes Schreibhilfe. Was für ein komischer Gedanke – während ich mein Examen am Bishop’s College gemacht hatte und um die halbe Welt gereist war, hatte diese Frau hinter demselben Schreibtisch immer dieselbe Rolle erfüllt. Wie viele junge Männer waren durch die Türen der McGill gegangen, seit ich das letzte Mal hier gewesen war? Wie viele Frauen? Von der gegenüberliegenden Wand blickte immer noch Andrew F. Holmes mit unerbittlichem Stolz auf mich herunter.
Junge Männer in Talaren kamen vorbei, plaudernd und lachend, unterwegs zu einer Vorlesung. Ich kannte keine Menschenseele hier. Wie schrecklich es wäre, wenn ich William Howlett begegnen würde! Oder sonst irgendeinem
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