Das Geheimnis der Herzen
den elektrischen Straßenbahnen, wodurch die Pferde noch leichter scheu wurden. Es war noch nie so vertrackt gewesen, die Sherbrooke Street zu überqueren.
Der Campus war wie ein kleines Paradies mitten in diesem Verkehrsdschungel. Welche Wendung mein Leben genommen hatte, seit ich das letzte Mal auf dem Universitätsgelände herumgelaufen war! Ich war jetzt Ärztin – was ich aber bekanntlich nicht dieser Einrichtung zu verdanken hatte. Die medizinische Fakultät der McGill schloss Frauen immer noch von den Vorlesungen aus. Was für eine kleinliche, engstirnige Institution – und trotzdem mochte ich sie, allen Vernunftgründen zum Trotz. Als ich durch das Eingangstor ging, sah ich das Gesicht meines Vaters vor mir, und eine tiefe Sehnsucht überkam mich.
Auf dem Rasen vor dem Gebäude der Geisteswissenschaften spielte eine Gruppe von Männern Football. Ich kannte die Regeln dieses Spiels nicht. Für mich sah es so aus, als würden sich die Männer völlig unmotiviert aufeinanderstürzen und dann plötzlich, aus unerklärlichen Gründen, wieder voneinander ablassen. Sie nahmen das Spiel ernst. Einen Augenblick waren sie kurz davor, sich gegenseitig umzubringen, im nächsten umarmten sie ihre Gegner, die sie doch gerade noch in den Matsch gedrückt hatten.
Meine Schuhe machten im Laub ein raschelndes Geräusch. Ein Stück weiter vorn war ein Mann dabei, die Blätter zusammenzurechen, aber sie fielen so rasch von den Bäumen, dass seine Bemühungen nahezu vergeblich waren. Ich fühlte mich alt. Die Studenten – wie alt waren sie? Sechzehn? Siebzehn? Kinder, deren Hoffnungen und Träume noch unangetastet vor ihnen lagen.
Ich hatte meinen Traum verwirklicht, aber was hatte mir das gebracht? Reichtum? Ich schaute auf mein Kleid, das ich jetzt schon viel zu viele Tage trug, ohne es zu waschen, und auf den geflickten Mantel unter meinem Arm. Ruhm und Ansehen? In meiner Studienzeit war ich berühmt gewesen, aber jetzt hätte ich genauso gut tot sein können. Glück? In meinen Augen brannten Tränen. An jenem Tag, als ich meinen Titel bekam, dachte ich, mein Leben würde sich vollkommen verändern. Ich hatte das verbotene Land meines Vaters betreten. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Aber in Wahrheit passierte gar nichts. Ich blieb dieselbe unschein bare Agnes White, weder reicher noch berühmter noch glück licher als zuvor.
Auf der anderen Seite des Weges saß ein Mädchen, das ein bisschen aussah wie Laure. Es legte sein Buch weg und schaute zu mir herüber, wandte dann aber schnell den Blick wieder ab. Da erst merkte ich, dass ich es angestarrt hatte. Wurde ich bereits exzentrisch und löste bei jüngeren Menschen Unbehagen aus, mit meinen hungrigen, sehnsüchtigen Augen? An meinen Schläfen hatte ich neulich die ersten grauen Strähnen entdeckt. War es nicht Jane Austen, die geschrieben hatte, dass eine Frau mit siebenundzwanzig verbraucht sei? In welchem ihrer Bücher – in Emma ? In Verführung ? Miss Skerry hätte das bestimmt gewusst.
Ich war neunundzwanzig, und ich besaß zwei Diplome, die schwarz gerahmt in meinem jämmerlich kleinen Raum an der Wand hingen. Stumm ging ich weiter. Das Mädchen steckte die Nase wieder in sein Buch. Ach, wie sehr ich mir wünschte, wieder in den Schutz des Studiums zurückkehren, Bücher lesen und Referate für die Dozenten schreiben zu können! In meine selbstmitleidigen Gedanken versunken, hatte ich den gepflasterten Weg zur Hälfte überquert, als mich plötzlich jemand anschrie. Es war der Fahrer eines Pferdewagens, der mir gerade noch ausweichen konnte. Die Augen des Pferdes traten vor Schreck fast aus den Höhlen. Schaum erschien auf seinem Metallbiss. Das Tier war so dicht vor mir, dass ich seinen Atem riechen konnte.
»Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!«, brüllte der Fahrer, während ich hastig die Flucht ergriff. »Das hätte Sie fast das Leben gekostet.« Er klatschte auf die Flanke des Pferdes, und der Wagen rollte weiter.
Ich wollte schon in die Sherbrooke Street zurückschleichen, in der gesichtslosen Menge untertauchen und mich in meinem höhlenartigen Praxisraum verkriechen, als ich meinen Namen hörte.
Ein Stück entfernt sah ich einen Mann in einem grauen Anzug, der mir lebhaft zuwinkte. Er trug keinen Hut, sodass der Wind seine Haare zerzauste. Ich erschrak – es war Dr. Samuel Clarke, der Mann, bei dem ich am Bishop’s College Allgemeinmedizin gehört hatte. »Dr. White!«, rief er. »Wo haben Sie sich denn die ganze Zeit versteckt?
Weitere Kostenlose Bücher